Hamburg. Mit 94 Jahren gibt der ehemalige Pianist des Beaux Arts Trios sein Solodebüt in der Elbphilharmonie. Publikum lauschte andächtig.
Der erste Akkord der Fantasie c-Moll von Mozart klingt, wie ein altes Möbelstück aussieht, das jemand mit vielen Schichten transparenten Lacks überzogen hat: Er entfaltet eine verwirrende Tiefenwirkung. Reine Reminiszenz ist dieser Klang, er schließt die Jahrzehnte in sich ein wie eine Auster die Perle.
Die Jahrzehnte eben, die vergangen sind, seit Menahem Pressler, der jüdische Junge aus Magdeburg, mit seiner Familie den Nationalsozialisten entkam. 1939 war das, in Amerika wurde er entdeckt, als Pianist des Beaux Arts Trios hat er die Konzertbühnen der Welt erobert. 94 Jahre ist er inzwischen alt, bei jedem seiner Auftritte scheint er noch etwas kleiner geworden zu sein. In Hamburg ist er regelmäßig zu Gast, aber einen ganzen Soloabend im Großen Saal der Elbphilharmonie gibt er an diesem Abend zum ersten Mal.
Reise ins Unbekannte
Das Publikum hält unhörbar den Atem an, als Pressler am Stock, gestützt von einer Dame, das Podium betritt, wie er sich auf den Klavierdeckel stützt, um sich zu setzen, vorsichtig und langsam. Und dann dieser Akkord. Wohl niemand kann an diesem Abend umhin, mit Pressler zu bangen. Mozart, Schumann, Debussy und Chopin stehen auf dem Programm, wird er das schaffen? Spieltechnisch und konditionell?
Es wird eine Reise ins Unbekannte, eine Schule des Hörens der besonderen Art. Für eine große dynamische Bandbreite hat Pressler nicht mehr die physische Kraft – also stuft er die Nuancen hauchfein ab und ersetzt den Parameter Lautstärke durch ein raffiniertes Spiel mit dem Zeitmaß. Ein Akkord kann auch groß wirken durch die Art, wie der Spieler ihn anlegt.
Weichgezeichnetes Klangbild
Ein sepiafarbenes, weichgezeichnetes Klangbild ist es, das Pressler entstehen lässt. Wer wollte sich über falsche Töne ärgern? Und wer sagt, dass schnelle Sätze, gehörten sie nun zu Mozarts Sonate c-Moll oder zu den berühmten „Kinderszenen“ von Robert Schumann, immer rasant zu spielen seien? Darüber lohnt es sicher nachzudenken.
Schade ist es allerdings um die Temporelation, wenn darüber die Charakteristika verloren gehen. Und dass bei den Läufen selbst im gemäßigten Tempo die Betonung holpert, muss jeden ehemaligen Klavierschüler zusammenzucken lassen. Der Daumen, der Daumen!
Schafft er die zweite Hälfte?
Richtung Pause lässt die Aufmerksamkeit im Publikum spürbar nach. Schafft er die zweite Hälfte? Die Frage steht den Leuten ins Gesicht geschrieben. Doch als Pressler auftritt, wirkt er rundum erfrischt. Die Auszüge aus Debussys „Préludes“ artikuliert er klar und präsent und kein bisschen pseudo-impressionistisch verwaschen, in das Walzerchen „La plus que lente“ (auf Deutsch etwa „mehr als langsam“) legt er gar einen Hauch frecher Laszivität. Tänzelt nur so durch sechs von Chopins Marzurken und hält dabei die Balance zwischen Leichtigkeit und Melancholie.
Andächtig haben die Leute gelauscht. Am Schluss erheben sie sich, klatschen sich warm, jubeln ihm zu. Zwei Zugaben gibt Pressler, dann geht er mit seiner Begleiterin sehr langsam ab. Am Bühnenrand dreht er sich noch einmal um und winkt, bevor er ganz verschwindet.