Hamburg. Bodo Kirchhoffs neues Buch „Dämmer und Aufruhr“ ist ein herausragendes Werk – und sein bisher persönlichstes.

Der Held stirbt als Kind beinah an einer Sepsis. Später, in Erfüllung seiner soldatischen Pflicht, entzündet sich der Blinddarm, das ist unpro­blematischer als Fahnenflucht. In Tübingen, als Pseudostudent, legt er sich besoffen durch die Frontscheibe eines Autos. Der Körper dieses verwundbaren jungen Mannes, der ein verwundbares Kind war, macht einiges mit. Und er ist ein Spiegelbild der Seele in Bodo Kirchhoffs herausragendem neuen Roman „Dämmer und Aufruhr“.

Der ist programmatisch „Roman der frühen Jahre“ unterbetitelt und, wie der Autor wenig überraschend selbst erklärt hat, sein bisher persönlichstes Buch. Es erscheint pünktlich zum 70. Geburtstag des Buchpreisgewinners des Jahres 2016. Kirchhoff wurde am 6. Juli 1948 in Hamburg geboren und verbrachte seine frühe Kindheit dort, in einer Stadt also, die damals noch von Zerstörungen des Kriegs geprägt war: „Bis auf die Pracht um die Außenalster ist mir nichts froh in eine Zukunft Weisendes aus den frühen Hamburgjahren in Erinnerung, und letzten Endes zielte die ganze elterliche Anstrengung darauf, aus dieser allgemeinen Düsternis an ein bleibendes Licht zu kommen.“

Familie hat ständig Geldsorgen

Die Zeit in Südbaden, in Freiburg, Kirchzarten, in Gaienhofen am Bodensee hat mehr hinterlassen in der Schriftsteller-Vita, der mit „Dämmer und Aufruhr“ eine hochliterarische Version der Autobiografie vorlegt: den Roman seines Lebens. Die Jugend ist die Lebensspanne der Empfänglichkeit, der Empfindsamkeit, jene Jahre bilden das Zen­trum der Erinnerungen Kirchhoffs. Als Rückblickender weiß er um die Tücken der Perspektive, als Erzähler von den Notwendigkeiten der Textkomposition. „Jedes Erzählen von Eigenem“, schreibt Kirchhoff, sei „immer ein Stück Theater“, „man ist selbst Teil der Handlung und führt sein altes Drama auf“.

In „Dämmer und Aufbruch“ bewältigt Kirchhoff also den Stoff seines Lebens, in dem er die biografischen Szenen stilisiert, sie mit den Mitteln des Dramas handwerklich zurichtet.

Und dieses Leben hat in der Tat dramatische Züge. Der Vater, der im Krieg ein Bein verloren hat, führt eine Firma für medizinische Geräte. Die Mutter ist Schauspielerin, unter anderem bei den Kammerspielen. Die Familie hat ständig Geldsorgen. Noch bevor der Erstgeborene in die Schule kommt, siedelt sie nach Süddeutschland um. Die Ehe der Eltern scheitert, und wie Kirchhoff insbesondere seine Mutter porträtiert, als junge und als alte Frau, entbehrt bei aller kunstvoll bewerkstelligten Erzähldistanz nicht der Warm­- herzigkeit und Zärtlichkeit.

Geheime Leidenschaften

Dies ist das Gefühl, das der erwachsene Erzähler auch seinem jüngeren Selbst entgegenbringt, dem Jungen, den er mal in der Er-Perspektive, mal als bekenntnishaftes Ich betrachtet. 2010 machte Kirchhoff im „Spiegel“ den sexuellen Missbrauch durch seinen Sportlehrer im Gaienhofener Internat öffentlich, der gleichzeitig Kantor des Internatchors war. In „Dämmer und Aufruhr“, das in erster Linie auch eine Art Sexualvita Kirchhoffs ist (mit dem Geschlechtlichen als Zen­tralmotiv menschlicher Existenz allgemein), beschreibt der Schriftsteller quälend genau und doch poetisch ungefähr die Beziehung des Zwölfjährigen, auf kaputte Weise durchaus eine Liebesromanze. Bei Kirchhoff wird das, was Missbrauch ist, was der Erzähler jedoch nie so nennt, zum sprach­ästhetischen Ereignis.

Im Wäldchen am See treffen sich der erwachsene Mann mit den geheimen Leidenschaften und der Junge, der noch nicht voll begreift: „Am Ende löschte er die Zigarette in dem, was für mich nach Liebe roch.“ Die Entdeckung des Eros wird von dem Schriftsteller Kirchhoff re-imaginiert, der einst über den Psychoanalytiker Jacques Lacan promovierte. Dennoch ist man als Leser auch nah bei dem Teenager, der nicht weiß, wie im geschieht, aber eben doch, „dass gleich die Schweinerei passiert“.

Mutter bagatellisiert den Missbrauch

Kirchhoff schildert die erste sexu­elle Erfahrung seines Lebens, ohne zu werten. Wohl auch, weil er als Schriftsteller die Möglichkeit hat, sprachlich mit der prägenden, verwirrenden, auch traumatischen Erfahrung umzugehen. Die alte Mutter bagatellisiert später den Missbrauch ihres Sohnes, der spricht von der Ironie, die er sich zugelegt hat, um sich die Umwelt vom Leib zu halten.

Als Erinnerungstext daran, wie das Körperliche, wie die Sinnlichkeit Einzug in sein Leben hielt, spart „Dämmer und Aufruhr“ weder die kleinen noch die großen Vorgänge aus. Da sind die erzwungenen Küsse der Großtante und ein Moment der Homoerotik beim Heer. Da sind auch die Hurenbesuche im Frankfurter Rotlichtviertel, der Schüler ist längst ein begeisterter Leser – und geil: „ihm ist, als hätte er zwei Körper, einen oberen, der Camus liest, und einen unteren, der ihn bloßstellt“. Später kommen konventionelle Liebschaften dazu, eines bleibt immer gleich: die Einsamkeit, die den Schüler umweht haben muss.

Bodo Kirchhoff:
„Dämmer und
Aufruhr“,
Frankfurter
Verlagsanstalt,
462 S., 28 Euro
Bodo Kirchhoff: „Dämmer und Aufruhr“, Frankfurter Verlagsanstalt, 462 S., 28 Euro © Frankfurter Verlagsanstalt

Die poetische Freiheit, die sich Kirchhoff in der Ausgestaltung der zurückliegenden Erlebnisse nimmt, fußt zum Teil auf den Ehe-Tagebüchern der Mutter, in denen ein langes Scheitern niedergeschrieben steht. Auf dem und der Grundlage von Familienfotos baut Kirchhoff sein Wortwerk. Meisterhaft, wie er sich zum Zeugen eines letzten glücklichen Abend­essens der Eltern, eines letzten gemeinsamen Urlaubs macht. In dem Hotel an der ligurischen Küste logiert Kirchhoff später selbst, er hört die „Carmina Burana“, um seinem Gedächtnis einen Retro-Impuls zu geben.

„Dämmer und Aufruhr“ ist Bildungs- und Künstlerroman, Internatgeschichte und Familiendrama. Eine Beschwörung der Jugend, der Kirchhoff das Klischee der Unschuld anheftet, ohne sie wie ein Klischee aussehen zu lassen. Die Unschuld ist auch keineswegs total. Mit dem Luftgewehr erledigt der junge Roman-Bodo einen der Singvögel im elterlichen Garten. Um danach im Spiegel festzustellen, dass man ihm die Mordtat nicht ansieht.

Der Blick zurück ist wie eine Dia-Schau, der Erzähler sieht sich als der, der er einst war, „er ist sinnlos jung auf dem Foto“.