Hamburg. Mit einem „Konzert für Hamburg“ verabschiedete sich Thomas Hengelbrock von seinem Posten als Chefdirigent des NDR-Orchesters

    Die Position war verkehrt. Hengelbrock selbst verrückte sein Podest dorthin, wo er es für Dvoraks Achte haben wollte. Näher am Tutti. Eine kleine Geste, mit großem Symbolwert. Ein Dirigent, der mit „seinem“ Orchester in sicherer innerer Verbindung steht, würde sich um ein paar fehlende Zentimeter Nähe nicht groß scheren. Das allerletzte Konzert in der Elbphilharmonie mit Thomas Hengelbrock als NDR-Chefdirigent fühlte sich – nun ja: sonderbar an. Eine siebenjährige Ära – von ihm im Zorn ein Jahr früher beendet als vertraglich vereinbart – hatte in Hamburg mit großem Bahnhof und riesigen Erwartungen begonnen. Sie endete in einem achten von acht Kurzkonzerten. Die musikalische Leistung war solide: ein tangoeskes Akkordeon-Konzert von Piazzolla, virtuose Schifferklavier-Tristesse mit dem bitteren Bei­geschmack gründlich gebrochener Herzen. ­Danach Dvoraks Achte Sinfonie. Schönes Standardrepertoire, das schon, aber nichts Besonderes.

    Als der NDR in der ersten Elbphilharmonie-Saison mit den „Konzerten für Hamburg“ loslegte, einer Idee von Chefdirigent Hengelbrock, war ein Markenzeichen dessen Entertainer-Qualität, seine launigen Moderationen hatten diesen coolen Schwiegermutterlieblings-Charme. Beim Abwinken als Chef am Montag: kein Ton, kein Wort. Nur Musik. Pflichterfüllung. Was eine Menge ist, nach 127 „vergangenen Terminen“, die von der Elbphilharmonie-Website zum Stichwort „Hengelbrock“ angeboten werden. Aber viel weniger als damals, als die gemeinsame NDR-Welt noch in Ordnung war. Vielsagend nichtssagend war Hengelbrock vor einer ­Woche in die finale Konzertserie ­gestartet, wortlos beendete er sie. Die noch ausstehenden „Konzerte für Hamburg“ vor der Sommerpause dirigiert der Hannoveraner NDR-Kollege Manze.

    Auch im Saal kein Ausnahme­zustand. Keine „Schön war die Zeit“-Rede von NDR-Chefs, aber zwei Seiten mit Textbausteinen auf einem Programmheft-Einleger. Auf den Dienstplätzen von Generalintendant Lieben-Seutter saßen dessen Pressesprecher und eine Sprecherin des NDR. Kultursenator Brosda saß links neben der Bühne.

    Viel ist mit Hengelbrock und wegen ihm passiert in den verflixten sieben Hamburger-Chef-Jahren. Er ist grau ­geworden und Vater. Der private Wohnsitz ist seit Längerem wieder in Paris.

    Seine Aufgabe, die Akustik des Großen Saals gemeinsam mit dem NDR-Orchester in den Griff zu bekommen, glich der Erstbesteigung eines unkartierten Achttausenders. Und es gab einen anderen bleibenden Moment: Kurz nach der Eröffnung, das Gastspiel vom Chicago Symphony und dessen Über-Maestro Riccardo Muti. Die legten ohne Einspielprobe los und zauberten aus dem Stand, während Hengelbrock, nach nervenzersägenden Wochen des Justierens und Probens, im Parkett saß und mit anhörte, was dort möglich ist, wenn ein Orchester, ganz einfach scheinbar, alles kann. Seit diesem Abend wollte ein fataler Eindruck nicht immer weichen: Dieser Konzertsaal ist rasant auf der Überholspur unterwegs, das NDR-Orchester fährt weiter rechts und sucht mitunter wacker den fünften Gang, den sich alle Beifahrer so dringend wünschen.

    Auf Hengelbrocks Repertoire-Liste kommt eine beeindruckende Bandbreite zusammen, von CPE Bach bis B.A. Zimmermann; viel Brahms, klar, als Hamburger Orchester, einiges von Mendelssohn, Wichtiges von Mahler. Beethoven das Wichtigste. Mozart dies und das – und mehr Bach und anderes Barock, als man es von einem auf spätere Epochen geeichten Rundfunkorchester erwarten konnte. Die Orchester-DNA ist eine ­andere geworden. Während Hengelbrocks Amtszeit nahm das Orchester den Namen seiner neuen Wirkungsstätte an. Aus Hengelbrock hätte ein zweiter Hans Schmidt-Isserstedt werden können, der nach einer Stunde null das Orchester erfunden und geformt hatte.

    Auch Hengelbrock sollte und wollte ­Musikgeschichte schreiben in der ­Musikstadt Hamburg, das hat er in einer historischen Anstrengung getan. ­Allerdings nicht immer in schwungvoll ausholenden, mutigen Bögen, sondern zum Ende hin eher angestrengt durchbuchstabiert. Die Chemie stimmte nicht mehr so recht. Die Gründe? Menschliches, Persönliches, Kritisches. Auch Vorgänger Christoph von Dohnányi hatte ­irgendwann genug. Seine erste „Opening Night“ im Herbst 2011 hatte Hengelbrock „Anything goes“ genannt. Es kam anders. Vieles ging, manches klemmte. Nun geht er. Der Karriere-
    Abschnitt als Gründungs-Chefdirigent der Elbphilharmonie bleibt ihm.

    Es gab Blumen zum Abschied und die eine oder andere Umarmung. Die Zugabe? Eine Herzensangelegenheit, klug ausgewählt: „Nimrod“ aus den „Enigma Variations“, melancholisch, tränchenfeucht, elegisch. Ein letztes Rätsel aus Tönen, bevor Hengelbrock doch noch gerührt Kusshände in den Saal warf. Er genoss diesen Anblick der Dankbarkeit, nachdem Elgars Adagio eine Frage in den Raum gestellt hatte: Was wäre geworden, wenn?