Hamburg. Emily Ruskovichs fulminanter Roman „Idaho“ erzählt von einer unfassbaren Tat und ist eine echte Entdeckung.
Es gibt Romane, die die Erwartungen des Lesers und der Leserin stark unterlaufen, ja: enttäuschen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn am Ende der Geschichte keine Auflösung steht. Literarisch ist das Offenbleiben oft nicht die schlechteste Idee, aber als Leser ist man dennoch dezent vergnatzt.
Es gibt aber auch Romane, die die Auflösung verweigern und dennoch nicht für Enttäuschung sorgen. Vielleicht, weil man die Aussparung dank meisterhaft inszenierter Aura der Ungewissheit ohnehin kommen sah. Oder weil Handlung und Aussage ihrer Kraft beraubt wären, bliebe am Schluss kein Geheimnis übrig. Emily Ruskovichs Roman „Idaho“ ist nicht nur eine erstaunlich intensive Leseerfahrung, sondern auch genau so ein Fall: keine wirkliche Auflösung, aber auch kein Frust.
Ein Drama von geradezu biblischen Ausmaßen
Im Zentrum einer Geschichte über Verlust, Vergessen, Bewahren und Neuanfang steht eine unfassbare Tat: Jenny schlägt ihre kleine Tochter May tot, ihr anderes Mädchen, June, verschwindet für immer in den Wäldern Idahos. Wade, der Vater, verliert alles, was er liebte, in einem Drama von geradezu biblischen Ausmaßen. Das Leben im ländlichen, gebirgigen Idaho ist einfach, bisweilen einsam. Der Schnee, der im Winter die Gipfel bedeckt, überzuckert hier aber kein Idyll: Im Idaho Emily Ruskovichs verlieren Teenager auf groteske Weise ihre Gliedmaßen und mittelalte Männer vor der Zeit ihr Gedächtnis.
Im Verlauf der Handlung ist diese immer loser verknüpft
Manch einer mag aufgrund der Virulenz des Themas „Demenz“ aufstöhnen, aber in diesem Roman, der vor allem eine literarisch reizvolle Abhandlung über die Leere in und um uns (aber auch den Reichtum der Gefühle) ist, ist der sich selbst vergessende Wade einer der Erzählfäden, mit denen die raffinierte, sehr amerikanische Erzählerin Ruskovich ein enges Motivgeflecht webt.
Die Chronologie ist aufgebrochen, und alle Teile des zwischen 1973 und 2025 spielenden Romans korrespondieren trefflich miteinander. Ruskovich erzählt in einer weit ausholenden Bewegung von der Vorgeschichte der Tat, dem Kennen- und Liebenlernen Wades und Jennys, dem späten Kinderglück und dem Familienleben. Sie erzählt von Ann, der zweiten Frau Wades; sie ist sogar sein zweites Leben, und sie ist es, die die Teile zusammensetzen will.
Der Roman spendet auch Trost
Wenn sie einen Fleck auf dem Teppich entdeckt, imaginiert sie Szenen von vor vielen Jahren: zwischen Jenny, ihrer Vorgängerin, die jetzt im Gefängnis sitzt, und deren Töchtern. Wade driftet langsam in das unumkehrbare Vergessen, und sie versucht in der Zeit zurückzugehen. Ann gibt die Suche nach June nicht auf, sie lässt einen Künstler Porträt-Aktualisierungen des verlorenen Mädchens anfertigen und hängt sie aus.
Im Verlauf der Handlung ist diese immer loser verknüpft. Einmal beschreibt Ruskovich aus der Perspektive eines Hundes, wie ein Mädchen im Wald unentdeckt verschwinden kann. In diesem vielversprechenden Debüt, dessen Figuren-Psychologie und Konstruktion, dessen eher konventionelle, aber in jedem Satz überzeugende Sprache die Herkunft der Autorin verrät, ist die Lust zu spüren, Raum und Zeit literarisch auszumessen; wahrscheinlich hätte es dafür nicht jedes Kapitel gebraucht. Die Beschreibung von Jennys Leben im Gefängnis ist etwas überfrachtet. Dennoch ist dieses manchmal meditative, ruhige Buch, das man sich als Familiendrama auf dem Bildschirm vorstellen könnte, eine der Entdeckungen dieses Frühjahrs.
Weil es seinen Stoff anspruchsvoll in Szene setzt und am Ende vieles verweigert, was vielleicht doch nur Pathos gewesen wäre. Und weil der Roman gleichzeitig Trost spendet – auch dank seiner sprachlichen Zugänglichkeit.
Emily Ruskovich: „Idaho“, Übersetzung von Stefanie Jacobs, Hanser. 384 S., 24 Euro