Hamburg.
Das Motto des aktuellen Kampnagel-Schwerpunktes „Tanz für alle“ löst sich in José Vidals „Frühlingsopfer – Rito de Primavera“ unmittelbar ein. Und offenbart manchem Tanz-Skeptiker womöglich sogar einen neuen Blick auf das Genre.
Barfuß geht es am Freitagabend zunächst für die Zuschauer durch einen Sand-Tunnel in die große Kampnagel-Halle. Räucherstäbchenduft liegt in der Luft. Die 50 Tänzerinnen und Tänzer – zur Hälfte aus Chile, zu Hälfte aus Hamburg stammend – bewegen sich in dem abgedunkelten Raum im Kreis und stimmen rituelle Gesänge an. Schließlich mündet das Intro in ein großes Gruppentableau, einen regelrechten Massenrausch zu einer sagenhaft mitreißenden elektronischen Tonspur von DJ Jim Hast und Musiker Andy Abarzua.
Der chilenische Choreograf José Vidal, der zum ersten Mal in Hamburg gastiert, begreift Tanz als etwas zutiefst Soziologisches. Er erforscht in der Bewegung Gruppendynamiken aber auch Motivationen der Einzelnen. Die Choreografie speist sich ebenso aus heidnischen Opferritualen wie aus Totenfeiern und thematisiert gleichsam den ersehnten Frühlingsbeginn. Mal trägt eine Gruppe einen Tänzer, mal finden sich Paare zusammen, mal lösen sie sich in Unterensembles auf. Tempo und Ausdruck münden in eine furiose Ekstase. Es ist eine tolle körperliche Verausgabung, die sich entlädt, aber den Zuschauer auch allezeit gekonnt einbezieht.
Schließlich wird das Publikum auf die nach allen Seiten hin offene Bühne geladen. Mancher hätte den Hamburgern solch entfesselte Tänze vorher sicher nicht zugetraut. Plötzlich ist es, als stünde man in einer gigantischen Großraum-Disco. Alles ist tanzende Masse. Die Sehnsucht nach dem Frühling ist spürbar groß. Wie auch die vielfältigen Bemühungen, ihn herbeizutanzen. Lang kann es nicht mehr dauern.