Hamburg. Auch ohne Außenminister Gabriel wurde die Veranstaltung des EuropaCamps auf Kampnagel zum Lehrstück für Demokratie.
Europa steckt in der Krise. An den Rändern suchen separatistische Gruppen die Spaltung, die eigentlich überwunden geglaubte Nationalstaaten-Idee gewinnt wieder Auftrieb, Populisten erstarken. Wie kann sich Europa dieser Herausforderung stellen? Um darüber nachzudenken, hat die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius auf Kampnagel unter dem Thema „Rethink. Reload? Reclaim!“ zu einem zweitägigen EuropaCamp geladen. Die angekündigte Politprominenz mit Sigmar Gabriel und Olaf Scholz blieb der Konferenz wegen der Koalitionsgespräche in Berlin zwar fern, der Andrang war beim Auftakt am Freitag dennoch groß. Prominente Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Politik, Wissenschaft, Kultur, Wirtschaft und Medien trafen in teils hitzigen Diskussionen aufeinander.
Negar Hosan-Aghaie (DeutschPlus – Initiative für eine plurale Republik), Esra Küçük (Direktorium Maxim Gorki Theater) und die ehemalige Hamburger Kultursenatorin und Ex-KulturstaatsministerinChristina Weiss sprachen am frühen Nachmittag über „Europäische Identitäten und Mentalitäten“ und gingen der Frage nach, ob es eine „europäische Kultur“ gibt. Die Auseinandersetzung zwischen den alten und neuen EU-Ländern kranke daran, dass man sich nicht darauf verständigen könne, was wirklich wichtig sei, so Christina Weiss. „Kultur ist das Regelwerk des miteinander Umgehens zwischen den Menschen, aber auch mit der Umwelt.“ Esra Küçük erntet mit klaren Worten den größten Applaus. Europa sei ein Gebilde der verschiedenen Perspektiven: „Es gibt ehemalige Kolonialmächte, aber auch ehemals kolonisierte, die von der Sowjetzeit geprägt sind“, so Küçük. Man müsse die ins Boot holen, die nicht begeistert von der europäischen Idee seien, etwa die Generation Ü 50 und die ländliche Bevölkerung. Die Angst mancher Menschen vor Migration müsse ernst genommen werden.
"Es fehlen klare Haltungen"
Mit der komplexen Frage nach einer europäischen Identität beschäftigte sich die nachfolgende Diskussion. Melanie Amann („Der Spiegel“), Satiriker Jan Böhmermann, Politikwissenschaftler Frank Decker (Universität Bonn) und Almut Möller (European Council on Foreign Relations, Berlin) suchten beim Thema „Kampf der liberalen Demokratie. Europas Populisten“ nach Ursachen und Gegenmaßnahmen.
Schon in früheren Zeiten sei Populismus etwa in den USA eine Reaktion auf Industrialisierung und Modernisierung gewesen, sagte Decker. Amann, die ein Buch über den Aufstieg der AfD verfasst hat, erklärte, Euro- und Flüchtlingskrise hätten dieser Partei in die Hände gespielt. Böhmermann verwies darauf, dass klare Haltungen fehlten. Es seien heute vor allem Komiker und Journalisten in der Lage, Kontroversen und Debatten auszulösen. Im politischen Betrieb sei diese Fähigkeit weitgehend verloren gegangen.
In Nord- und Westeuropa sei der Rechtspopulismus stark, in Skandinavien sogar akzeptierter Bestandteil des Systems, erläuterte Decker. In den vom Finanzkapitalismus gebeutelten, wettbewerbsschwachen Volkswirtschaften Südeuropas erstarkten hingegen eher linkspopulistische Bewegungen. Gegen den antipluralistischen Umbau der Staaten in Osteuropa sei Europa hilflos.
Einig war man sich darin, gegen Volksverhetzer mit extrem präziser Sprache anzugehen, um ein Einsickern von durch die AfD geprägten, wertenden Begriffen wie etwa „Altparteien“ in den täglichen Sprachgebrauch zu verhindern. „Satiriker und Volksverhetzer arbeiten mit ähnlichen Mitteln, aber kommen aus verschiedenen Richtungen“, so Jan Böhmermann. „Satiriker sind im Kern Humanisten, die mittels Aufmerksamkeitserregung in Debatten eintreten. Volksverhetzer tun das aus dem Wunsch nach Zerstörung des Systems heraus.“ Die wehrhafte Demokratie müsse dabei klar und vernehmlich eine rote Linie ziehen, darin waren sich die Teilnehmer einig.