Hamburg. Beim Konzert von Pianist Daniel Barenboim sorgte ein Teil des Publikums für störende Begleittöne. Dennoch ein umjubelter Abend.
„Hausverbot für Debussys Klaviermusik in der Elbphilharmonie“? Eine schön spektakuläre Schlagzeile wäre das; so etwas fehlt dem Haus in seiner Sammlung noch. Es wäre aber auch eine fast verständliche Notwehrmaßnahme der Intendanz, angesichts der Katarrh-Salven, die Daniel Barenboimam Sonnabend in der ersten Hälfte des Recitals aushalten und ausgerechnet mit diesem Hauch von Musik überspielen musste. Mit Musik, die fragil ist wie ein Mobile im sommerlichen Abendwind, das nur von Lamettafäden zusammengehalten wird.
Am Vorabend hatte Barenboim seine Gratulation zum 100. Todestag dieses Komponisten in der Philharmonie de Paris gespielt, er ist damit auf Tournee, eine teilweise frisch eingespielte Debussy-CD, pünktlich zum Jubiläumsjahr, steckt im Reisegepäck. Macron und Merkel waren ebenfalls da gewesen, eine Augenhöhe sicher ganz nach Barenboims Geschmack, in dessen Künstlerbrust neben dem Herzen des Klaviervirtuosen auch das eines Über-Maestros und Weltbürgers schlägt.
Lungenkranke auf Wandertag
Dann folgte Hamburg, die nächste Prestige-Adresse als nächste Tour-Etappe, und im Großen Saal wurde derart brachial geröchelt, geräuspert und gestört, als wären die verhaltensauffälligsten Gestalten aus der Belegschaft von Thomas Manns „Zauberberg“-Lungensanatorium auf Wandertag. Barenboim sagte zwar nichts, stattdessen sprachen seine Blicke Bände. Selbst in der Zugabe noch schaffte es jemand, drei seiner SMS-Signaltöne in einer einzigen Wiedergabe von Schumanns Fantasiestück „Des Abends“ unterzubringen. Man muss als Solist nervlich schon sehr gefestigt sein, um gerade in dieser Arena dennoch nicht durchzudrehen und das Feinstgefühl in den Fingerspitzen nicht zu verlieren.
Dass Barenboim es sich bei seinem dritten Elbphilharmonie-Auftritt – dem ersten ohne Orchester – als Teilzeit-Tastenzauberer leicht und handlich machen wollte, kann man angesichts des Debussy-Pensums ohnehin nicht behaupten: Er begann mit dem ersten Band der „Préludes“, Deluxe-Repertoire, Michelangeli, Zimerman, diese Solitäre sind da die herausragenden Vergleichsgrößen. Mit der Idee, das alles mal eben wegzuspielen, wie es bei einem so Überbeschäftigten wie Barenboim passieren kann, käme man nicht weit.
Leise, abgründige Eleganz
Barenboims Ansatz war deswegen auch der einer vorsichtigen Gratwanderung zwischen den Möglichkeiten, Klangfarben abzuschattieren und zu dosieren, und der Notwendigkeit, die zerbrechlichen Strukturen dennoch erkennbar zu halten. Lieber etwas zu viel Pedal als zu wenig; lieber dabei die Dynamik so weit herunterfahren, dass man sich im Parkett ständig erfreut fragen durfte, warum dieser Vorgang noch „Anschlag“ genannt und mit Hämmern vollzogen wird. Sehr delikat war das, durchaus geschmackvoll, unaufgeregt abgeklärt, von Übersicht geleitet, nicht vom Übermut, auch diese Musik routiniert im Griff zu haben. Aber nicht immer detailverschärfend, zumindest in den zügiger angelegten Préludes nicht.
Die elegischen, melancholischen, sich durch das nur skizzierte Geschehen treiben lassenden Préludes jedoch waren von einer leisen, abgründigen Eleganz durchdrungen, die der Pianist Barenboim nach wie vor aus dem Frackärmel zaubern kann, mit bewundernswerter Beiläufigkeit und einer Sicherheit, die staunen ließ. „Les sons et les parfums tournent dans l’air du
soir“: dahingetupft wie ein Gedanke an Glück, frei durchs Irgendwo schwebend; „La fille aux cheveux de lin“: betörend schlicht; „La cathédrale engloutie“: eine wehmütige Erinnerung an Vergänglichkeit.
Dieser Soloabend wurde völlig zu Recht bejubelt
Nach der Pause wurde es abwechslungsreicher, weil Barenboim die Dosis der jeweiligen Ausdrucksmittel klug variierte. In den drei „Estampes“ spielte er subtil mit den eingewobenen fernwehverheißenden Andeutungen, dem Exotismus in „Pagodes“, dem spanischen Aroma in „La soirée dans Grenade“, dem Wassertropfen-Ballett aus Noten in „Jardins sous la pluie“. Als Vorspielchen war das ideal für die anschließenden „Deux Arabesques“, dieses sanft perlende Schimmern der Akkordfächerungen, die der noch junge Debussy als Fingerübung für seine Sicht auf die Dinge auf Notenpapier gebannt hatte. Kunststückchen des Moments, die für den Effektezauberer Barenboim zwei willkommene Ruhepäuschen waren, bevor es mit „L’isle joyeuse“ ein letztes Mal pianistisch ernst und höchstanstrengend wurde, weil es mit einem Triller-Erdbeben beginnt und sich dann in eine Euphorie steigert, die kaum zu bändigen ist.
Hier kam Barenboim, trotz aller Erfahrung, auch an seine Grenzen. Hatte er bis zu diesem Punkt gespielt, war er durch Debussys Musik getänzelt – im letzten Stück des Abends, der zu Recht umjubelt wurde, ging die Partie zwischen Meister-Interpret und Meisterwerk unentschieden aus.
CD-Tipp: Daniel Barenboim – Debussy (Deutsche Grammophon), ca. 17 Euro