Hamburg. Die Schauspielhaus-Produktion „Das halbe Leid“ ist eine fordernde Performance. Zuschauer sind Mitwirkende

Alles dreht sich um Dolores. Das ist keine feurige Spanierin, sondern der Schmerz. Die Krämpfe, wenn kein Heroin mehr da ist, um den nächsten Schuss zu setzen. Die Erinnerung an die Frau, die vor Jahren mit einem anderen weggegangen ist. Das Trauma nach einer Vergewaltigung. Die Schläge des Vaters. Wenn Kurt, den alle Sheriff nennen, von seiner Dolores spricht, ist das seine Frau. Als junger Assistenzarzt hat er mit ihr in Aachen gelebt. Dann offenbart sie ihm, dass sie ein Kind von einem anderen bekommt und verlässt ihn. Sheriff verliert die Stellung, wird zum Pegeltrinker, landet auf der Straße. Jetzt sitzt er im Rollstuhl, eine Dose Bier zwischen den Beinen. „Nach unten geht es schneller als nach oben“, sagt er.

Sheriff ist einer der Performer und Schauspieler in der Produktion „Das halbe Leid“, die die Gruppe SIGNA in der ehemaligen Werkhalle von Heidenreich & Harbeck am Wiesendamm in Barmbek zeigt. Es ist die dritte Performance-Installation von SIGNA für das Deutsche Schauspielhaus. Mit ihren Darstellern schaffen die Regisseure Signa und Arthur Köstler einen Raum, in dem strenge Regeln gelten, an die sich Performer und „Publikum“ zu halten haben. Zuschauer sind Teilnehmer. Die Distanz zwischen Bühne und Parkett ist aufgehoben, das Publikum wird zum Mitspieler in einer eigenen Welt. Bei „Das halbe Leid“ ist es die Welt der Obdachlosen. 50 „Zuschauer“ haben sich für die Premiere der innerhalb weniger Stunden ausverkauften Vorstellungsreihe Karten besorgt, um eine ganze Nacht, zwölf Stunden!, in der Welt der „Penner“ und „Berber“ zu verbringen, um die man auf der Straße oft einen großen Bogen macht.

Die Nachtruhe beginnt um 1 Uhr, doch ruhig ist es nicht

Das SIGNA-Team hat in der heruntergekommenen Werkhalle einen fiktiven Sozialverein mit Namen „Das halbe Leid e. V.“ angesiedelt. Die Idee des Abends ist es, die Zuschauer mit Obdachlosigkeit zu konfrontieren und ihre Empathie im Rahmen eines „Kursusprogramms“ zu entfachen. Zu Beginn müssen sie sich in einer Reihe aufstellen und werden von den Schauspielern mit unfreundlichen Blicken taxiert. Sie tragen eine Plakette mit ihrem Namen und der Bezeichnung „Leidender“ um den Hals, die Zuschauer sind fortan „Mitleidende“. „Guck mich an“, herrscht ein junger Mann mit kahl geschorenen Haaren einen der Teilnehmer an, der seine Schuhspitzen betrachtet. Der Ton ist aggressiv.

Nach und nach geht es in die Schlafräume. Die Kleidung wird getauscht. Jeder „Mitleidende“ muss sich aus einem Sammelsurium an Wäsche passende Sachen heraussuchen. Eine halbe Stunde später ist kaum noch zu unterscheiden, wer auf der Straße lebt und wer nicht. In ausgeleierten Jogginghosen, verwaschenen T-Shirts und zu großen Schuhen folgen die „Mitleidenden“ ihren Mentoren durch die kalte Fabrikhalle. Es gibt „Programme“ mit Titeln wie „Rückenwind“ und „Weinen“, doch es geht vor allem darum, miteinander zu sprechen. Hauptthema ist immer wieder Dolores.

Die Geschichten der „Leidenden“ wirken lebensecht. Während er im Schlafsaal Erbrochenes aufwischt, erzählt ein Mann, der sich als Blondi vorstellt, wie er vom Studenten zum Junkie und zum Stricher geworden ist. Er zittert, weil das Heroin an Wirkung verliert. „Methadon funktioniert bei mir nicht“, sagt und berührt sein Gegenüber zärtlich an den Händen. „Wir könnten gute Freunde werden.“ Die ergreifenden Leidensgeschichten der Schauspieler erzeugen bei einigen Zuschauern so viel Vertrauen, dass sie ihrerseits ungeschönt aus ihrem Leben erzählen. Ein trockener Alkoholiker aus Kiel berichtet, wie er abgerutscht ist, und teilt seine Erfahrungen mit Sheriff und seiner Alkoholikergeschichte. Ein anderer erzählt von einem Liebesdrama, das ihn fünf Jahre lang an den Rand des Absturzes gebracht hat. In diesem Moment ist die Grenze zwischen den Performern und Publikum aufgehoben, ein Effekt, der normalerweise im Theater nicht passiert. SIGNA ist hart dran an der Wirklichkeit. Das zeigt sich drastisch im zweiten Teil des Abends, der Nacht.

Um 1 Uhr ist Nachtruhe, die grellen Neonlampen werden gelöscht, doch an Schlaf ist kaum zu denken. Ein bärtiger Typ namens Schimmel-Peter schlurft durch die Gänge mit den engen Pritschen und legt eine Kassette mit Wolfsgeheul ein, aus dem Frauen-Schlafsaal im ersten Stock ertönen gellende Schreie, und auch Sheriff hat eine schlimme Nacht. Er stöhnt und schreit, Dolores ist ihm im Traum erschienen. Gretchen aus dem Einrichtungsteam erscheint und liest ihm vor.

Die ganze Nacht hindurch hört man Stöhnen und Schnarchen, wüste Beschimpfungen oder das Füßescharren der Schlafwandler. Es ist, als verbringe man wirklich ein paar Stunden in einem Nachtasyl. Um 5.30 Uhr flammen die Neonlampen wieder auf. Frühstück in der schmalen Küche. Von 50 „Mitleidenden“ sind 29 übrig geblieben und stellen sich für Kaffee und einen eklig aussehenden Brei an. Die anderen Zuschauer haben das Experiment vorher abgebrochen und sind nach Hause in ihre Komfortzonen gegangen. Um 7 Uhr ist „Das halbe Leid“ vorüber. Vor der Tür der Werkhalle stehen die Zuschauer noch in Gruppen zusammen, rauchen und diskutieren über ihre Erfahrungen der vergangenen Stunden.

Dieses Theaterstück macht etwas mit jedem, der dabei ist. Wer demnächst vor einem Lebensmittelmarkt einen Obdachlosen lagern sieht, wird vielleicht mit anderem Blick auf ihn schauen – weil er in dieser Nacht eine Ahnung davon bekommen hat, was es bedeutet, auf der Straße zu leben.

„Das halbe Leid“: Alle Vorführungen bis Januar sind z. Zt. ausgebucht; eventuelle Restkarten unter T. 248713; www.schauspielhaus.de