Zürich. Der kanadische „Sonnenzirkus“ gastiert mit der spektakulären Show „Ovo“ vom 1. bis 5. November in der Barclaycard Arena.

Der Himmel über der Stadt ist aufgelockert, die Oktober­sonne hat noch Kraft, lässt den Zürichsee in schönstem Blau strahlen. Doch daran verschwenden die Menschen, die am Vormittag im Hallenstadion von Zürich mit sich und ihren Künsten beschäftigt sind, keinerlei Gedanken. Kühlaggregate brummen. Auch hier im Backstage-Bereich der Arena, der hinter schwarzen Vorhängen fast die Hälfte der Multifunktionshalle einnimmt.

Das Areal wirkt wie ein überdimensionales Gym: Matten, Trampoline, Seile, Hanteln. Ein Mann mit Kopfhörern schleudert – zwei Stäbe mit Seilen locker-elegant im Griff – immer wieder Diabolos in die Luft. Jene Spielgeräte aus zwei Halbkugeln, mit denen man(n) so schön jonglieren kann – wenn man’s denn kann. Erst drei, dann vier, dann sogar fünf – bis das sechste auf den Boden kracht. Gleich daneben balanciert ein anderer derart schlafwandlerisch sicher auf einem schwankenden Seil, als klebte er daran. Derweil ein dritter Akteur sich auf einer Matte dehnt und biegt, als sei er aus Gummi.

Menschlich gesehen: Im Sonnenzirkus

Es ist der Tag nach der Europa-Premiere von „Ovo“. Das ist portugiesisch, heißt auf Deutsch „Ei“ und ist der Titel der Show, die der Cirque du Soleil zu seinem 25. Jubiläum im Jahr 2009 als Zelt-Spektakel kreiert hatte. Tony Frebourg, der französische Diabolo-Könner, Qiu Jiangming, der Seilartist aus China, und Kyle Cragle, der amerikanische Hand-Balance-Artist, sind drei herausragende Solokünstler des Programms, das vom 1. bis 5. November als neu konzipierte Hallen-Show mit Live-Band in der Hamburger Barclaycard Arena zu erleben ist.

Dann werden die drei wie alle Künstler wieder in bunten hand- und maßangefertigten Tierkostümen stecken. „Ovo“, das sich zu einer beliebten, leicht verspielten Familienshow mit Clowns und zuweilen etwas infantilem Humor entwickelt hat, nimmt Groß und Klein mit in die Insektenwelt. Im Backstage-Bereich aber haben die Spinne alias Qiu Jiangming, das Glühwürmchen alias Tony Frebourg und die Libelle alias Kyle Cragle jetzt Gesichter und Stimmen.

Neun Weltrekorde hält Tony Frebourg

Er sei mit seinen 21 Jahren einer der jüngsten Artisten der Show, sagt US-Boy Kyle. Schon mit neun Jahren, nach dem Besuch eines Zirkustheaters, erklärte er seinen Eltern, dass er professioneller Zirkuskünstler werden wolle. „Mit 15 bin ich dann von zu Hause in Houston/Texas ausgezogen, um meine Träume zu verfolgen“, erzählt Cragle stolz. Auf der National Circus School in Montreal entdeckte er seine Liebe zu Handständen. Seit seinem Abschluss im Sommer 2016 bereist Cragle als handbalancierender Kontorsionist, sprich Schlangenmensch, die Welt. Wirkt Kyle Cragle nicht nur ob seiner verblüffenden Dehnfähigkeiten nahezu tiefenentspannt, bildet Tony Frebourg einen echten Gegenpol. Nur ein paar Meter vom Amerikaner entfernt sitzt der Franzose nach seinen Diabolo-Übungen auf einem Spinning-Rad und strampelt. Der Schweiß rinnt.

Sein Ehrgeiz ist dem 35-Jährigen anzumerken. Neun Weltrekorde hält der Hochleistungs-Artist mit dem Diabolo derzeit. Am Vorabend hat er als Glühwürmchen-Mann das Publikum mit seiner Jonglage von vier Geräten imitgerissen. Doch er trainiert für mehr. „Gib mir fünf!“, sagt er sich womöglich auch bald in der Show. Sein Metier übe er schon seit 17 Jahren professionell aus, erzählt der Artist aus Rouen in der Normandie. „Zehn bis zwölf Jahre will ich das noch machen. Golf spielen kann ich später immer noch“, merkt er ­trocken an. Frebourg weiß eben, was er wert ist. Schließlich hatte ihn Guy Laliberté, Gründer des Cirque du Soleil und inzwischen längst Milliardär, 2009 höchstpersönlich angerufen, um ihn zu engagieren. Das war drei Tage vor der Uraufführung von „Ovo“, und flugs wurde Frebourg Teil der Show.

Das hatte fast das Spontane, das dem ursprünglichen Charakter des kanadischen „Sonnenzirkus“ entspricht. Eine Vermischung von Kulturen, Kunst und Akrobatik schwebte dem Straßenkünstler Laliberté vor, als er 1984 in der Provinz Quebec den ­Cirque du Soleil gründete – weg vom klassischen Zirkus. Seine Vision wurde Wirklichkeit. Mehr noch: Das Unternehmen mit Sitz in Montreal ist inzwischen ein Global Player der Entertainment-Branche, 20(!) verschiedene Shows hat der ­Cirque du Soleil zurzeit im Programm, darunter allein sieben in Las Vegas im US-Bundesstaat Nevada.

„Wir haben die Welt nach Zonen aufgeteilt. Zehn Produktionen sind gleichzeitig auf Tour“, erläutert Heather Reilly. Die Kanadierin ist als Leiterin mit Artistic Director Tim Bennett für „Ovo“ verantwortlich. „Die Show ist spielerischer als manch andere“, sagt Bennett. „Wir wollen die Menschen auf eine Reise mitnehmen.“ Und natürlich bemühen sie auch das Bild von der Zirkusfamilie. 19 verschiedene Fahnen hängen über dem Backstage-Bereich im Hallenstadion Zürich, 18 repräsentieren die Herkunftsländer der 100 Mitarbeiter der Tour (darunter 50 Artisten) – der Cirque du Soleil hat als 19. eine eigene.

Strenges Kommando

„Der Cirque du Soleil ist die Formel 1 des Zirkus“, meint Gerald Re­gitschnig. Der 51 Jahre alte Österreicher und Wahlspanier muss es wissen: Er hat einst beim legendären Schweizer Zirkus Knie das Clowns-Handwerk erlernt und fast überall auf der Welt gastiert. Aber müssen Clowns eigentlich wie Akrobaten am Tag nach der Premiere trainieren? Nun, mit seinem fast 20 Jahre jüngeren schlaksigen, keineswegs auf den Mund gefallenen Schweizer Kollegen Jan Dutler, abends im Fliegenkostüm der fremde Eindringling im „Ovo“-Reich, liefert sich der kantige Glatzkopf ein amüsantes verbales Scharmützel. Fürs Timing auf der Bühne durchaus hilfreich.

Der Gründer

Längst ist der Nachmittag angebrochen. Im Gym hinter der Bühne trainieren jetzt die Akrobatik-Gruppen. Russische und ukrainische Kerle stemmen nebeneinander Gewichte, damit ihnen als Fänger später am Trapez die fliegende Akrobatinnen nicht entgleiten. Besonders akribisch gehen sechs chinesische Artistinnen vor. Erst sitzen sie, wie Sportlerinnen, mit ihrer Trainerin vorm Bildschirm und schauen sich ihren Auftritt vom Vorabend an: Als Ameisen verkleidet jonglieren sie in der Show auf dem Rücken liegend spektakulär mit den Füßen überdimensionale Kiwi-Scheiben, Maiskolben und Avocados aus Kunststoff. Nach der Video-Analyse ist ihre Arbeit aber längst nicht getan: Unter strengem Kommando wirbeln sie mit den Füßen erneut Obst und Gemüse herum, schließlich sogar drei ihrer Partnerinnen. Hier ist sie hautnah zu spüren, die Faszination Zirkus mitsamt perfekter Körperbeherrschung.

Ein- oder Zweijahresverträge

Selbst Clown Gerald Regitschnig wird noch aktiv, fährt eine halbe Stunde auf dem Ruder-Ergometer. Auch Humor setzt Körperarbeit voraus, bevor die Show abends erneut ins Rollen kommt. Apropos: Am 30. Oktober rollt der Cirque-du-Soleil-Tross aus Leipzig in Hamburg an, mit 23 Lkw und 700 Kisten sowie einem Food-Truck. Viel werden die Artisten auch von der Hansestadt nicht sehen. Fast alle sind mit Ein- oder Zweijahresverträgen an den Cirque gebunden. Zumindest so lange sind sie Teil der Zirkus-Familie.

„Ovo“ 1.11.–5.11., Mi/Do jeweils 20.00, Fr 16.00 + 20.00, Sa 12.00, 16.00 + 20.00, So 13.00 + 17.00, BC Arena (S Stellingen + Bus-Shuttle), Sylvesterallee 10, Karten zu 67,- bis 108,- in der HA-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, T. 30 30 98 98.Die Reise nach Zürich wurde unterstützt von der Live Nations GmbH.