Hamburg. In ihrem Werk „Und es schmilzt“ erzählt die Belgierin Lize Spit die beklemmende Geschichte eines Dorfs
Dörfliches Idyll sieht anders aus. Schon in der zweiten Szene von „Und es schmilzt“ macht Lize Spit, die junge flämische Schriftstellerin, klar, dass es in ihrer Geschichte unheilvoll zugehen wird. Evas Vater nimmt die 14 Jahre alte Tochter mit in das sogenannte „Arbeitshaus“, eine rumpelige Werkstatt, in der Müll, Bierdosen, Werbegeschenke und Arbeitsgeräte herumliegen. Dort zeigt er ihr eine Schlinge, die von einem Holzbalken von der Decke baumelt, und erklärt ihr, wie es beim Erhängen zum Genickbruch kommt. Eva lebt mit Bruder Johan und der jüngeren Schwester Tesje in einem kleinen Dorf in Flandern. Die Eltern sind Alkoholiker, die Beschreibung dieser dysfunktionalen Familie läuft als paralleler Handlungsstrang nebenher, der zentrale Plot handelt von Evas Freundschaft zu den gleichaltrigen Jungen Pim und Laurens.
„Und es schmilzt“ ist ein Entwicklungsroman, der im Sommer 2002 spielt. Die drei Teenager hängen in den Ferien zusammen ab, bei Pim und Laurens erwacht die Sexualität. Sie locken Mädchen aus dem Dorf an verschwiegene Orte, geben ihnen Rätsel auf und bringen sie dazu, sich auszuziehen. Eva ist ihre Helfershelferin, denn sie hat sich das schwierige Rätsel ausgedacht, das niemand zu lösen weiß. Eine zweite Zeitebene spielt zwölf Jahre später. Eva lebt inzwischen in Brüssel, als sie eine Einladung von Pim erhält, der auf seinem Hof einen Melkroboter vorstellen will. Widerwillig macht sie sich auf den Weg und lädt dazu einen großen Eisblock in den Kofferraum ihres Autos. Erst nach 400 Seiten dämmert dem Leser, was sie mit diesem Eisblock vorhat. Schon vorher wird klar, dass sie Rache für einen Vorfall nehmen will, der sich in jenem Sommer 2002 ereignet hat.
Lize Spit, Jahrgang 1988 und wie ihre Protagonistin in einem Dorf aufgewachsen, schafft es über Hunderte von Seiten mit Andeutungen und rätselhaften Vorgriffen eine ungeheure Spannung aufzubauen. Erst auf den letzten Seiten laufen die beiden Erzählstränge, die 16 Jahre auseinanderliegen, zu einem dramatischen Ende zusammen. Dazwischen liegt die genaue Beobachtung des dörflichen Lebens. Jeder kennt jeden und weiß vieles über den anderen, der Tratsch blüht, Geheimnisse werden nur hinter vorgehaltener Hand weitergegeben. Eva steckt mittendrin in dem Geschehen, registriert jedes Detail und beschreibt es in einer nüchternen Sprache. Nur selten kommt Empathie durch, die Sprache ist Ausdruck ihrer Traumatisierung und der Schieflage innerhalb ihrer Familie.
„Und es schmilzt“ beschreibt Eva auch als Mädchen im Übergang zwischen Pubertät und Erwachsenenwelt. Sie ist sich ihres Körpers nicht sicher, sie lässt Gefühle nicht zu, sie sehnt sich nach einer Freundin. Notgedrungen verbringt sie ihre Freizeit mit den gleichaltrigen Freunden Pim und Laurens, die sie als begehrenswertes Mädchen jedoch nicht wahrnehmen, sondern nur als Kumpel. Diese Gruppendynamik kippt am Ende ins Sadistische. „Ich bin ihre Strafe“, sagt Eva. Konsequent und erbarmungslos geht sie ihren Weg.
Lize Spits dunkler Dorfroman wurde in Belgien und in den Niederlanden im vergangenen Jahr zu einem riesigen Erfolg. Innerhalb weniger Wochen verkaufte er sich mehr als 20.000-mal, und die Autorin wurde für diesen wuchtigen Erstling mit zahlreichen Preisen geehrt. Dadurch, dass Lize Spit die Andeutungen allmählich und en passant aufdeckt, entfaltet ihr Roman einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Für den Leser wird „Und es schmilzt“ zu einer krassen Erfahrung. Die belgische Zeitung „De Standaard“ schrieb darüber: „Dieser Roman ist eine Granate.“ Ein prägnantes, zutreffendes Urteil.
Lize Spit: Und es schmilzt, 505 Seiten,
S. Fischer Verlag, 22 Euro.
Moderierte Lesung: Di 7.11., 20.00, Buchhandlung Lüders (U Osterstraße), Heußweg 33 (ausverkauft); www.buchhandlunglueders.de