Heute wird bekannt gegeben, wer die höchste literarische Auszeichnung erhält. Wir haben Buchhändler nach ihrem Favoriten gefragt
Vergangenes Jahr bekam der Musiker und Songwriter Bob Dylan den Literaturnobelpreis. Für die Musikindustrie war das eine gute Nachricht, für den Buchhandel nicht. Aber nicht nur die Aussicht, in diesem Jahr wieder anders als zuletzt unmittelbar nach der Verkündung viele Bücher zu verkaufen, lässt Hamburgs Buchhändlerinnen und Buchhändler heute gespannt nach Stockholm blicken. Neben Nobelpreisfavoriten haben sie übrigens auch noch andere: Die Profi-Leser verraten uns ihre Lesetipps der Saison.
Hiltrud Klose, Buchhandlung Kortes, Blankenese:
Antwort 1. Elena Ferrante ... wen wird das Nobelpreiskomitee dann wohl anrufen? Ich bin neugierig.
Antwort 2. Jan Philipp Reemtsma – er ist einer der feinsinnigen Denker unserer Zeit. Seine Schriften zur Literatur und zum Thema „Gewalt in Gesellschaften“ sind grundlegend.
Antwort 3. Marion Poschmann, „Die Kieferninseln“: Gilbert träumt nachts von der vermeintlichen Untreue seiner Ehefrau und besteigt daraufhin empört am nächsten Tag den ersten Flieger nach Tokio. Sprachvirtuos und komisch begleitet Poschmann ihren Protagonisten auf einer ungewöhnlichen Reise.
Gustave Flaubert, „Drei Geschichten“: Die drei letzten meisterhaften Erzählungen Flauberts, vorgelegt in einer bibliophilen Ausgabe und famosen Neuübersetzung von Elisabeth Edl.
Anuk Arudpragasam, „Die Geschichte einer kurzen Ehe“: Mit außergewöhnlich poetischer Sprache erzählt der junge Autor aus Sri Lanka von den Schrecken des Krieges und der Zartheit einer Liebe.
Christiane Hoffmeister,
Büchereck Niendorf
Antwort 1. Robert Arthur. Als Erfinder der Reihe „Die drei ???“ hat er über Grenzen und Generationen hinweg Menschen nachhaltig begeistert. Abgesehen davon kann niemand meckern, wenn er nicht zur Preisverleihung erscheint.
Antwort 2. David Grossman. Seine Literatur hat in der kritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart und Geschichte Israels auch immer etwas Verbindendes. Keine politische Hetze, sondern ein Versuch der Versöhnung und des Verständnisses.
Antwort 3. Lana Lux, „Kukolka“: Menschenhandel in Europa. Missbrauch und Hoffnung, selten wurde so schonungslos brutal und so sensibel über dieses Thema geschrieben.
Yaa Gyasi, „Heimkehren“: Die Geschichte der Sklaverei, aus zwei unterschiedlichen Richtungen erzählt. In Zeiten von Rassismus und Fake News bleibt das Thema hochaktuell.
Anne von Canal, „Whiteout“: Eine Frau auf der Suche nach der Vergangenheit, von der sie letztendlich eingeholt wird. Eine poetische Reise, auf die Anne von Canal uns mitnimmt und dann letztendlich in der Sprachlosigkeit, in der weißen Weite stehen lässt.
Annerose Beurich,
Buchhandlung Stories!, Hoheluft
Antwort 1. Philip Roth: Seit Jahrzehnten wartet die literarische Welt auf den Nobelpreis für Philip Roth. Manche Wünsche müssen einfach in Erfüllung gehen. Antwort 2. David Grossman: für seine großartigen, unvergesslichen Bücher. Allen voran „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“. Für sein Engagement für Versöhnung und Verständigung, und weil seit 1966 kein Literaturnobelpreis mehr an einen israelischen Schriftsteller ging.
Antwort 3. Robert Menasse, „Die Hauptstadt“: Schicksale und Bürokratie, Geschichte und Utopie. Ein Buch über Europa – ein Buch zur Zeit.
Annie Ernaux, „Die Jahre“: Persönliche Erinnerungsarbeit der 1940 geborenen französischen Schriftstellerin und universelle Gesellschaftschronik zugleich. Ungewöhnlich, eindringlich.
Mariana Levy, „Was man von hier aus sehen kann“: Herzensbuch und literarischer Hochgenuss.
Nicole Christiansen,
Buchhandlung Christiansen, Ottensen
Antwort 1. Wer könnte auf Bob Dylan folgen? Nach Songtexten im vergangenen Jahr 2017 vielleicht Bloggertexte?! Schnell zu lesen, große Leserschaft und immer aktuell. Aus meiner Sicht klingt das aber nach dem Sargnagel des Literaturnobelpreises. Ich bin altmodisch und hoffe, dass man jemanden findet, der Zeit hat, zur Preisverleihung persönlich zu erscheinen, und dessen Bücher wir verkaufen können.
Antwort 2. In von Krisen geschüttelten Zeiten sollte das Komitee mit seiner Entscheidung auf politische Signale und das geschriebene Wort setzen. Als Leserin und Buchhändlerin denke ich da sofort an die großen literarischen Werke von Philip Roth, Ljudmila Ulitzkaja oder auch Anthony Doerr. Alle vermögen es, Geschichten zu erzählen, die Fremdheit und Grenzen überwinden. Das brauchen wir mehr denn je!
Antwort 3. Pierre Lemaitre, „Drei Tage und ein Leben“: Schmales Buch über ein großes Thema: den Umgang mit Schuld.
Richard Ford, „Zwischen ihnen“: Autobiografisches Porträt seiner Eltern, voller Liebe und Versöhnung.
Helge-Ulrike Hyams, „Das Alphabet der Kindheit“: Die eigenwillige Mischung der Stichworte von A wie Atmen über Geheimnis, Kuscheltier oder Schulschwänzen bis Z wie Zaubern erlaubt der Autorin, sich in alle Richtungen zu wagen und ein buntes Mosaik an Inhalten zum Nachdenken anzubieten.
Bettina Sietz, Buchhandlung
Heymann, Rahlstedt
Antwort 1. Zu den Favoriten dürften Margaret Atwood und Amos Oz gehören. Für beide gilt, dass sie in ihren Werken eine Sprache finden für das Gemeinsame und für das Trennende im Leben von Frauen, Männern und der Gesellschaft.
Antwort 2. Ian McEwan – ein großer europäischer Autor, dessen Romane Weltniveau haben. Stets aufs Neue beeindruckt er mit Stoffen und Figuren, die davon erzählen, was im Leben und in der Liebe von Menschen passieren kann.
Antwort 3. Uwe Timm, „Ikarien“: Ist für mich der große deutsche Roman in diesem Jahr. Ein Mann, ein Land und das frühe 20. Jahrhundert – mit allen falschen und wahren Idealen und mit den großen Verwerfungen in Politik, Gesellschaft und Moral.
Liz Spit, „Und es schmilzt“: Ein Roman von ungeheurer sprachlicher Kraft. Ein beeindruckendes Debüt über die Rückkehr einer jungen Frau an den Ort ihrer Kindheit. Direkt und packend.
Jennifer Ryan, „Der Frauenchor von Chilbury“: Ein unterhaltsamer Roman, der 1940 in England spielt. Aus der Sicht von fünf Frauen erzählt die Autorin von Wohl und Wehe zu Zeiten des Krieges – und von der (Überlebens-)Kraft der Musik.
Annegret Schult,
Buchhandlung Felix Jud, City
Antwort 1. Bei den vielen politisch oder sonstwie motivierten Entscheidungen der letzten Jahre wäre man schon froh, wenn die Wahl auf einen Schriftsteller fällt – und unter denen gibt es ja noch einige, die ihn verdient, aber nicht bekommen haben. Siehe Antwort 2.
Antwort 2. Philip Roth natürlich. Dass die amerikanischen Autoren seit Jahrzehnten missachtet werden, ist mit nichts zu erklären. Und ich bitte um Beeilung – John Updike ist schon tot.
Antwort 3. Jan Philipp Reemtsma, „Einige Hunde“: Reemtsma schreibt über Hunde in der Kunst und in seinem Leben. Überraschend und eigenwillig wie gewohnt.
Lucia Berlin, „Was wirst du tun, wenn du gehst?“: Erzählungssammlungen enthalten auch immer schwache Texte – dieser nicht. Die scharfsinnigen und listigen Erzählungen von Lucia Berlin gehören zu den besten, die ich in letzten Jahren gelesen habe.
Gion Mathias Cavelty, „Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete. Ein höchst fiktiver Roman“: Bei den Olympischen Winterspielen von 1974 wird der Skirennfahrer Franz Klammer per Zeitreise in Jerusalem des Jahres 33 geschleudert. Ein Roman wie ein nächtlicher Traum, surrealer geht’s nicht und komischer auch nicht.
Daniela Dobernigg, Buchhandlung
Cohen & Dobernigg, Sternschanze
Antwort 1. Ich hoffe, es wird David Grossman. Weil er längst überfällig ist (wie auch viele Kollegen und Kolleginnen) und, soweit ich weiß, nicht singt. Seine Romane, Sachbücher und Kinder- Jugendbücher sprechen für sich!
Antwort 2. Da bleibe ich bei David Grossman, plädiere aber auch für Haruki Murakami, Margaret Atwood, und – warum nicht? – die großartige Dramaturgin, Theaterregisseurin, Übersetzerin und Romanautorin Nino Haratischwili. Das wäre wirklich großartig.
Antwort 3. Mariana Leky, „Was man von hier aus sehen kann“: Weil dieser Roman von der ersten bis zur letzten Seite der Seele gut tut. Ohne kitschig oder pathetisch zu werden, nimmt Leky uns mit in ein kleines Dorf im Westerwald, wo eine alte Frau von einem Okapi träumt, weshalb für einen Tag alles anders läuft als sonst.
Zadie Smith, „Swing Time“: Die Autorin überzeugt mit ihrem bislang stärksten Roman. Ein mitreißendes Buch über Freundschaft, Tanz und Musik – ein geniales Buch über Chancengleichheit, Rassismus und die Bedeutung der Herkunft. Kurz: ein wahnsinnig gutes Buch.
Jaroslav Kalfař, „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“: Jakub Procházka, der erste Raumfahrer der Tschechischen Republik, ist alleine unterwegs im All. Nach 13 Wochen jedoch glaubt er, nicht mehr alleine zu sein – irgendwer bedient sich am Nutellaglas! Und damit nicht genug, verlässt ihn auch noch seine Frau, die doch sehnsüchtig auf seine Heimkehr warten sollte. Kein Wunder, dass Jakubs Sinne verrückt spielen ...
Heike Klauder, Buchhandlung Klauder, Duvenstedt
Antwort 1. Ganz keck: Ich würde mir Connie Palmen wünschen. Die holländische Autorin hat großartige und kluge Bücher über das immer aktuelle Thema Frau, Mann, Frau und Mann geschrieben.
Antwort 2. Amos Oz! Der Autor setzt sich seit Jahren für den Frieden in Nahost ein und lässt dabei nicht nach ...
Antwort 3. Sabrina Janesch, „Die goldene Stadt“: Ein historischer Roman über den Entdecker der Inkastadt Machu Picchu, Robert August Berns – spannend und literarisch kraftvoll geschrieben.
Mareike Krügel, „Sieh mich an“: Ein kleines Geheimnis, was noch einen Tag eines bleiben soll, weil sich so viel ändern kann oder wird. Klug und mit viel Tempo erzählt die Autorin den ganz normalen Alltag einer Frau und Mutter.
Jens Henrik Jensen, „Oxen. Das erste Opfer“: Ein traumatisierter Elitesoldat, eine toughe Geheimdienstlerin und ihr Kampf gegen korrupte Politiker – ein spannender dänischer Thriller.
Thomas Bleitner,
Buchhandlung Lüders, Eimsbüttel
Antwort 1. Haruki Murakami – weil er einer der vielseitigsten und faszinierendsten Autoren der Gegenwart ist, ein Liebling vieler Buchhändlerinnen und Buchhändler, der seit über 30 Jahren Weltliteratur schreibt.
Antwort 2. Philip Roth als größter Chronist der amerikanischen Gesellschaft. Seit Jahrzehnten schon zählt er zu den ersten Anwärtern und geht immer wieder leer aus – man fragt sich: Geschieht dies aus Prinzip, da das Komitee in Stockholm sich einem „öffentlichen Druck“ nicht beugen mag?
Antwort 3. Deborah Feldman, „Überbitten“: Erzählt nicht nur eine hoch spannende Fluchtgeschichte, sondern handelt auch von einer äußerst vielschichtigen „Versöhnung“ mit dem vor jener Flucht Erlebten.
Colson Whitehead, „Underground Railroad“ – ein großer Roman über den amerikanischen Bürgerkrieg, der auf schlanken (und sehr spannenden) 350 Seiten Unmengen an Wissen über die Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten vermittelt.
Édouard Louis, „Im Herzen der Gewalt“: Das Buch zeigt die tiefen Gräben auf, die die französische Gesellschaft zunehmend spalten – anhand einer atemberaubenden Handlung, entworfen von einem beeindruckend klugen Autor, 24 Jahre jung und unglaublich weise.