Hamburg. „Wiener Straße“ heißt der neue Roman von Sven Regener. Ein Gespräch über Bücher, Kultur, die enthemmten 80er und Kino-Adaptionen

Auch wenn er seit mehr als 30 Jahren in Berlin lebt, hat er seinen genuschelten Bremer Slang nie abgelegt. Das macht Sven Regener, den ­Musiker, Rock-Poeten und Schriftsteller, so authentisch. Gleiches kann man von seinen Romanfiguren sagen. In dieser Woche erscheint sein Künstler-Roman „Wiener Straße“, der 1985 in Berlin-Kreuzberg spielt. Das Abendblatt hat mit Regener beim Summer’s-Tale-Festival gesprochen, bei dem er mit seiner Band Element of Crime auftrat. Das ­Gespräch drehte sich um Kunst, Punk, den Kinofilm „Magical Mystery“ und den Groove bei einer Lesereise.

In „Wiener Straße“ spielen wie in den Vorgängerromanen wieder Karl Schmidt und Frank Lehmann mit. Kommen Sie nicht los von diesen ­Figuren?

Sven Regener: Man muss die Geschichten erzählen, wie sie einem einfallen. Was mich interessiert hat und was schon unterschwellig das Hauptthema von „Der kleine Bruder“ war, ist die ­Beschäftigung mit der Kunst. In „Der kleine Bruder“ sagt Karl Schmidt: „Es ist Kunst, wenn einer sagt, dass es Kunst ist. Und dann muss man noch einen finden, der es ihm glaubt.“

Die Kunst, die Figuren wie Karl Schmidt, H.R. Ledigt und P. Immel machen, ist doch oft mehr Behauptung als Werk.

Karl Schmidt bringt das mit seiner Definition gut auf den Punkt. Kunst kam oft mit einem Siegel oder einem Manifest daher. Ob das jetzt abstrakter Expressionismus, Pop-Art oder Fluxus war, sie wurde immer mit einem Beipackzettel präsentiert. Dann war Ende der 70er-Jahre Punkrock da, und alles explodierte. Das Do-it-Yourself und das Kollektive wurden wichtig. In der Kunst hörte man damals mit der Wertung und mit dem Manifest-Schreiben auf. Da gab es zum Beispiel eine Performance im Café Swing am Nollendorfplatz. Die machten da was mit einem Flammenwerfer und spannten eine nackte Frau auf ein Rad. Dann drehten die das Rad dreimal, und das war es dann. Kunst als das Hehre gab es nicht mehr. Das war der Punkrock-Ansatz.

Entstand diese Punkkunst vor allem in Berlin?

Das gab es auch in Köln oder Düsseldorf, aber in Berlin war es vielleicht am meisten entakademisiert. Performance-Art und der Einbruch des Alltäglichen in die Kunst wurden allgegenwärtig. Alles konnte Material sein. Bei Warhol hatten die Suppendosen noch was Überhöhtes durch das Format und den Siebdruck. Jetzt konnte einfach eine Suppendose mit der Behauptung auf den Tisch gestellt werden: Das ist Kunst! In meinem Roman hat es mich interessiert, von Leuten zu erzählen, die so drauf waren.

Haben Sie diese Zeit in Berlin selbst erlebt?

Ich bin 1982 nach Berlin gezogen. Dieser Aufbruchsgeist war bis 1985 noch ziemlich virulent. Alle machen alles, jeder kann mitmachen. Niemand hat gefragt, wo man herkommt und was man früher gemacht hat; ob man qualifiziert ist und welchen Hintergrund man hat. Da war alles egal. Nach Berlin zu gehen war wie in die Fremdenlegion einzurücken. Man legte zwischen sich und seine Vergangenheit zwei Grenzen. Das hat viele Leute auch enthemmt. Dass sie sich bei einer Performance auszogen, hatte auch damit zu tun, dass ihre Eltern sicher nicht im Publikum saßen.

Wie ist Ihr Kunstbegriff?

Ich bin ein Verfechter der Auffassung, dass Kunst sich nicht rechtfertigen muss und ihre eigene Funktion hat. Sie muss nicht therapieren oder belehren oder politisch mobilisieren. Das sind Nebeneffekte. Die Kunst gibt dem Menschen Urlaub von der eigenen Existenz.

Das müssen Sie erklären.

Ich habe darüber bei einer Gastprofessur in Kassel eine Vorlesung gehalten. Kunst ist Urlaub von der Sterblichkeit. In dem Moment, in dem ich mich auf Kunst einlasse, entferne ich mich von der Vergänglichkeit und vom Elend und von der traurigen Seite meiner eigenen Existenz. Kunst ist ein Mittel zur Bewältigung der eigenen Melancholie, und sei es durch deren Verstärkung.

Gehen Sie häufig in Museen und Galerien?

So wie jeder andere auch. Ich war vor drei Monaten im Hamburger Bahnhof in Berlin, da gab es ein paar tolle Arbeiten von Anselm Kiefer. Kunst sollte man nicht als Mittel zur Bildung begreifen. Sie hat auch nicht die Aufgabe, die politische Weltlage zu verbessern. Wir ­leben gerade in einer Zeit, in der Künstler sich immer mehr für das, was sie tun, rechtfertigen sollen. Was eine Unverschämtheit ist.

Sehen Sie Ihre Figuren in „Wiener Straße“ als Helden?

Ja, das sind alles Helden. Wir fiebern mit ihnen mit, wir wollen wissen, was mit ihnen passiert. Helden müssen nicht immer sein wie Achilles. Bei Shakespeare ist Falstaff ein Held, ohne dass er sich jemals heldenhaft benimmt. Helden müssen nicht immer strahlen.

Gibt es eine Figur, die sie besonders mögen?

Beim Schreiben habe ich mich in H.R. Ledigt verliebt. Er ist exzentrisch, aber unglaublich klar. Er wird für seine Konsequenz bewundert. Er zieht seine Kunst mit Kettensäge und verbrannten Kuchenstücken durch, präsentiert in einer Vitrine namens Neue Neue Nationalgalerie. Kunst macht ihm Spaß, die Wirkung und die Meinung der Betrachter sind ihm wurscht. Er ist der Verrückteste in diesem Figuren-Tableau. Mit H.R. bin ich noch nicht fertig.

Im Kino ist jüngst die Verfilmung Ihres ­Romans „Magical Mystery“ angelaufen, in dem Karl Schmidt die Hauptrolle spielt und für die Sie das Drehbuch geschrieben ­haben. Wie gefällt Ihnen die Umsetzung?

Sehr gut sind die Aufnahmen bei der Mayday in Dortmund. Nichts ist so ­erbärmlich wie ein Film über Rave, bei dem so ein großer Rave mit 300 Komparsen simuliert wird. Das eigentliche Wunder des Films sind die Schauspieler. Detlev Buck, Charly Hübner und Annika Meier sind toll. Alle anderen auch!

Detlev Buck ist ja häufiger in Verfilmungen Ihrer Romane zu sehen.

Buck legt da einen Ferdi hin, das hätte man sich nicht besser wünschen können. Zusammen mit Marc Hosemann funktionieren beide als Superteam. Man nimmt ihnen ab, dass sie seit zehn Jahren jeden Mist zusammen machen. Im Buch sieht man die Handlung durch Karls Augen. Der Film erzählt weniger über Karl als über die anderen Figuren.

Sie sind nicht nur ein erfolgreicher Autor, sondern mit Element of Crime ein ebenso erfolgreicher Musiker. Wie bekommen Sie Literatur und Musik unter einen Hut?

Konzerte kann man immer geben. Große Teile von „Magical Mystery“ habe ich während einer Clubtournee mit Element of Crime geschrieben. Aber ich könnte keine Songs schreiben, wenn ich mit einem Roman zugange bin.

Ist es schwieriger, einen Roman oder einen Song zu schreiben?

Wenn man etwas gut machen will, ist es immer schwierig. Besonders anstrengend sind die letzten zehn Prozent. Die Songs entstehen in einem kollektiven Prozess, bei einem Roman muss ich ganz allein aus mir selber schöpfen.

Sie sind gewohnt, auf einer Bühne zu stehen. Wie ist das bei Lesereisen, bei denen der Kontakt zum Publikum noch dichter ist als auf einer Konzertbühne?

Es macht mir mittlerweile sehr viel Spaß. Anfangs wollte ich das nicht, weil ich dachte, es sei ein Job für Schauspieler. Aber ich habe einen Weg gefunden, der funktioniert. Ich interpretiere meinen Text, und die Sprache bekommt ­dabei einen ganz eigenen Groove. Das hat dann eine ganz eigene Qualität.