Hamburg. In der Elbphilharmonie überzeugte die bedeutungsschwere Inszenierung der Cello-Suiten nicht vollends
Drehungen, Wendungen, immer wieder. Kreise und Kreiseln, kontrolliertes Zucken und sehnig dahinfließendes Zögern, unterbrochen von Stürzen und Aufrappeln. Auch in den Pausen pulsiert der Rhythmus-Schwung weiter, im angestrengt kontrollierten Atmen der Tänzer im Großen Saal der Elbphilharmonie. Hochleistungskunst. Hin und wieder reagiert der jeweilige Tänzerkörper zur Idee einer musikalischen Phrase, aber nicht notengetreu und rhythmussynchron, sondern mit einem gestischen Relief, um das jeweilige Grundtemperament der Cello-Melodielinie aufzugreifen und variierend weiterzudenken, dort also weitergehend, wo die notengebundene Musik an ihre Grenze stößt. Ein Bein zuckt dann vielleicht, eine barocke Schreittanz-Geste andeutend. Harmonische Gedankenbögen werden in Bewegungsabläufe übersetzt. Alles dreht sich um die unangestrengt fließende Quelle der Musik, in Kreisläufen, die mindestens das Leben, wenn nicht gar das ewige unbekannte Dahinter darstellen sollen.
Es ist leer auf der Bühne im Großen Saal. Und still. So still, dass man fast schon die Geburtswehen der Ton-Klang-Ideen hören kann. Dort soll ein Universum aus absoluten Strukturen durchmessen werden. Dass der Solist keine feste Position einnimmt und auch nicht erwartbar frontal ins Parkett spielt, unterstreicht den spielerisch leichten Umgang mit diesem Kunstwerk: Es geht, klingt, erschließt sich in diesem Saal der Sonderklasse, egal, aus welchem Blick- oder Hörwinkel.
Auf dem Tanzboden sind Kreismuster zu sehen, die dem Spiel-Raum für diese Konzentrationsübung aus Tönen seine abgezirkelten Proportionen vorgeben sollen. Umlaufbahnen für sie selbst, ihre drei Tänzer und eine Tänzerin, und nach jeder der sechs Suiten wird der Raum neu kalibriert, durch immer neue Pentagramm-Linien, die auf den Boden geklebt werden. Denn Anne Teresa De Keersmaeker, der belgischen Choreografin und Tänzerin, ist es ungemein ernst bei ihrem Projekt mit Bachs Suiten für Violoncello solo. Zu ernst.
So ernst, so bedeutungsbepackt und ergebnisarm verkapselt gerät ihr „Mitten wir im Leben sind“-Abend, dass man am Ende des Zweistundenexerzitiums trotz der Musik, die weit aus dieser Welt hinausweist, nicht unfroh ist, weil es tatsächlich vorbei ist. Überdurchschnittlich viele Besucher kapitulierten im Verlauf der Performance, in jedem Pausen-Intervall huschten sie mal mehr, mal weniger unhörbar aus den Rängen.
Im Januar noch, kurz vor dem allerersten Konzert, war es Sasha Waltz’ raumgreifende Eroberung, die das architektonische Herz der Elbphilharmonie, ihre Foyers und den Großen Saal betanzen und vorglühen ließ. Jetzt konterkarierte Hausherr Christoph Lieben-Seutter die womöglich auf handlichen Genuss ausgerichteten Erwartungen an seine erste „reguläre“ Spielzeit-Eröffnung: kein Orchester, nur ein einziger Musiker, der großartige Cellist Jean-Guihen Queyras, und sein Instrument. Pro Suite höchstens ein Mensch, erst in der letzten formt sich eine kleine Kollektiv-Traube aus den Einzeltänzern zum Unisono aus Fleisch und Blut.
Im Dämmerlicht bleibt der Instrumentalist nur zu ahnen
Eben kein schick eingängiges Allerwelts-Repertoire also, sondern eine Runde hoch dosierter Ewigkeit, purster Bach. Muss man schon sehr wollen, so etwas. Lieben-Seutter hatte ein radikal reduziertes Musik-Tanz-Projekt als Rahmen dieser Musik ins Konzerthaus geholt. Eines, dessen Choreografie-Anteil mit seiner Off-Bühnen-Befindlichkeit im dekorativ verlebten Rohbau Kampnagel womöglich stimmiger platziert gewesen wäre. Doch auch dort wäre der konzeptionelle Hang zum asketischen, irrlichternden Leerlauf in seinen vorgezeichneten Bahnen wohl nicht komplett verborgen geblieben.
Der Kontrast aus dem geradezu überirdisch strömenden Spiel Queyras’ mit der Absolutheit dieser Musik und der Erdung durch die Tänzer in ihrer sportiven Alltagskleidung steigert sich von Suite zu Suite. Auch Keersmaekers Konzept verstärkt sich: In der vierten Suite verlässt Queyras die Bühne und spielt im Zwischengang zum Foyer. Nur Noten-Ahnungen schaffen es noch durch die Tresortür in die Schatzkammer, den Rest, die Grundlage der Bewegungen, soll man sich denken. Ein betrübter Zuschauer ruft mitten in die Stille: „Ich hätte die Musik echt gern gehört ...“ Später verdunkelt sich der Saal, sodass noch weniger vom Original-Bach ablenkt. Was in diesen Passagen der Suiten passiert, ist also womöglich zu stark, zu übermächtig, um es in ein Bewegungskorsett zu zwängen. Im Dämmerlicht bleibt der Instrumentalist nur zu ahnen, selig zweifelnd und spielend, mit diesen zeitlosen Noten.