Hamburg. Der Deutschrocker unterhielt in der Barclaycard Arena 10.000 Fans mit seinem „Unplugged“-Programm

Bereits seit einigen Monaten wurden die Sicherheitskontrollen an den Eingängen der Barclaycard Arena erhöht. Doch ein Bild wie am Freitagabend beim Konzert von Marius Müller-Westernhagen (68) gab es auch noch nicht: In langen Zweierreihen winden sich die Besucher über den kompletten Platz zwischen Arena und Volksparkstadion, geduldig auf Einlass wartend.

Aber die meisten schaffen es offensichtlich rechtzeitig zu den ersten Tönen von „Geiler is’ schon“ (es gibt kein Vorprogramm) auf ihren Sitzplatz im komplett bestuhlten, ausverkauften Saal. Vor einem Jahr spielte Westernhagen im Rahmen von „MTV Unplugged“ in der Berliner Volksbühne. Jetzt wollen 10.000 Hamburger ihren Anteil an der Akustik-Tournee erleben.

Es heißt, dass Westernhagen in den frühen 90er-Jahren der erste Deutsche gewesen sein soll, der zu der damals noch sehr renommierten MTV-Reihe eingeladen wurde. Aber der sture Bock lehnte auf dem Höhepunkt seiner Karriere ab, mitten im größten „Affenthe­ater“ um seine Person. So wurde 1994 Herbert Grönemeyer der Erste, und Marius ließ auch noch den Fantastischen Vier, Ärzten, Toten Hosen, Udo Lindenberg, Max Herre, Cro, Sido, Revolverheld ... ja mit den Stargästen eigentlich der halben deutschen Popszene den Vortritt, bis er sich bequemte, den Stecker zu ziehen. „In den letzten Jahren ist die Reihe aber sehr inflationär behandelt worden“, sagte Westernhagen dem „Spiegel“. Man kann es so lesen: Ich zeige mal, wie man es richtig macht.

In Hamburg bedeutet das: kein Bühnenbild bis auf sechs dekorative, altmodische Theater-Scheinwerfer. Kein Konfetti bei „Wieder hier“, keine Tanzeinlagen, keine Videoeinspieler und auch die Gastmusiker des Berliner Konzerts, Udo Lindenberg, Jan Plewka, Elen Wendt und MiMi (Westernhagens Tochter), sind nicht mit dabei. Nur seine Ehefrau Lindiwe singt bei „Luft, um zu atmen“ und „Durch deine Liebe“ mit. Und die 13-köpfige Band inklusive Background-Sängern und Streichern ist auch so groß genug für ein akustisch reduziertes, dabei dennoch ziemlich breites Klangspektrum.

Westernhagen, der sich über Unplugged-Shows von Künstlern mokierte, die gerade mal zwei Alben veröffentlicht haben, sah sein stromloses Gastspiel in der Volksbühne als Werkschau seiner Karriere, mit neuen, ungewöhn­lichen Interpretationen von Liedern aus vier Dekaden. Und wie ernst er den Umgang mit seiner Musik nimmt, hört man auch in Hamburg. Er spult nicht einfach das bereits auf DVD und Blu-Ray veröffentlichte Berliner Programm ab, sondern stellt vieles um, schmeißt einige Songs raus und bringt neue ein. So hört man in der Barclaycard Arena als zweites Stück „Hass mich oder lieb mich“, eine uralte Nummer aus dem Jahr 1980, die in der Hansestadt wahrscheinlich zuletzt 1983 in der Ernst-Merck-Halle gespielt wurde.

Das sind natürlich nur Feinheiten für Fan-Fachchinesisch beim Bierholen, denn unplugged hin oder her, die Mehrheit im Rund will Hits. „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“, „Es geht mir gut“ und „Willenlos“ heben das Publikum auch in Blues-, Honkey-Tonk- oder Shanty-Versionen aus dem Gestühl. „Es ist kein Gesetz, dass ihr sitzen müsst“, kommentiert Marius das Auf und Ab in den Sitzreihen, „Mitsingen ist grundsätzlich erlaubt“, gesagt, getan bei „Weil ich dich liebe“ oder „Liebe (Um der Freiheit willen)“. Die gewünschte intime Atmosphäre eines Unplugged-Konzerts ist nicht einfach in der großen Arena zu erwecken, aber hier gelingt es. „Danke für das Zuhören, wir genießen das“, bedankt sich Westernhagen bei der Stadt, in der er 30 Jahre lebte und die ihn entscheidend musikalisch geprägt hat.

Wobei die Prägung durch Bob Dylan, zu sehen an Westernhagens aktueller Vorliebe für breitkrempige Hüte, nicht nur beim Mundharmonika-Spiel zu „Nur ein Traum“ deutlicher ist. Und die Rolling Stones natürlich. Auch ohne Stromgitarren klingen „Mit 18“ oder „Sexy“ deutlich nach den Herren, die gerade ihre Bühne im Stadtpark aufbauen lassen. „Sexy“ zeigt auch, wie dankbar Westernhagen ist, seine Hassliebe-Lieder, seine totgedudelten Stadtfest- und Sparclubkasten-Kneipen-Hits ohne Fan-Gemurre neu arrangieren zu dürfen. So geht „Sexy“ am Ende in „Power Of Soul“ von Jimi Hendrix über. Aber das fällt niemandem auf. Dafür erklärt Westernhagen ausführlich den Unplugged-Brauch, einen Song aus fremder Feder zu spielen. Er wählt „Heroes“ von David Bowie und singt dieses Stück Berliner Popgeschichte auch in Hamburg auf Deutsch und Englisch. „Helden für einen Tag“.

Der Tag, der Abend neigt sich dem Ende zu, und man rechnet nach der ersten Zugabe „Heroes“ für den Showdown mit dem Üblichen. Noch ein Schluck „Johnny W.“ und Feierabend. Stattdessen überrascht Westernhagen mit „Unter meinem Fingernagel“, einem völlig unbekannten, bis dahin vermutlich nie live gespielten Stück vom Album „Affentheater“ (1994). Dann kommt der Johnny Walker, und die ersten Fans gehen nach 130 Minuten schon, weil „Freiheit“ seit Jahren nicht auf dem Programm ist und in Berlin als Ausnahme vor „Johnny W.“ gespielt wurde. Der Großteil der 10.000 aber wittert noch was und applaudiert. Minuten vergehen, bis er auf die Bühne kommt: „Die Verträge sind gemacht, und es wurde viel gelacht, und was Süßes zum Dessert.“ Das Dessert: „Freiheit“.