Hamburg. Die erste komplette Aufführung der monumentalen Turangalîla-Sinfonie in der Elbphilharmonie wird vom Publikum begeistert gefeiert
Es geht also, neuerdings, endlich. Man kann jetzt also fast 2100 Menschen in einem Konzertsaal in Hamburg aus dem Stand dazu bringen, eines der sperrigsten, spektakelndsten Stücke aus der Mitte des 20. Jahrhunderts großartig und aufregend anders zu finden. So großartig, dass sie in den rund 80 Minuten nach fast jedem der zehn Sätze mit Etappenapplaus darauf reagieren und sehr viele am Ende begeistert ausrasten (und die vielen Open-Air-Besucher der Parallelübertragung auf den Elbphilharmonie-Vorplatz sind da noch gar nicht mitgerechnet). Ausrasten wegen Musik, die alles andere als eingängig scheint, wenn man sich mit allzu viel Vorbildungs-Vorahnungen nähert, anstatt sich ihr als Erlebnis ungebremst hinzugeben. Musik, in der es unentwegt drunter und drüber geht, als wäre buchstäblich Jahrmarkt im Himmel.
Schon das allein wäre zu Beginn dieser Spielzeit eine großartige, ermutigende Nachricht – und ein satter Strich durch die gern behauptete Veranstalter-Vermutung, dass man Publikum doch bitte nicht mit Niveau fordern und behelligen dürfe. Schöner noch wird sie dadurch, dass nicht nur der elbphilharmonische Event-Charakter dieses Konzerts eine Rolle fürs Begeistertsein spielte, sondern auch und vor allem die geradlinige musikalische Umsetzung.
Auf den Pulten des übergroßen Orchesters: Messiaens Turangalîla-Sinfonie, diese abendfüllende, jeden Rahmen sprengende Lobpreisung höherer Mächte, in der dieser frohgemute Katholik unter Eingemeindung anderer religiöser Inspirationen das himmelhoch aufgetürmte Schöpferlob-Jauchzen eines seligen Gemüts vertonte, die euphorische, naturverbundene Lebenslust und das fröhliche Pfeifen auf Konventionen in dieser „Kathedrale der philharmonischen Wollust“. Auf dem Dirigentenpodest: Ingo Metzmacher, ehemaliger Generalmusikdirektor dieser Stadt und schon seit damals ein Spezialist für das virtuose Durchbohren ganz dicker Bretter, dem es in seiner Amtszeit allerdings nicht vergönnt war, dieses Stück auf eine hiesige Konzertbühne zu stemmen.
Simone Young holte das 2005 demonstrativ nach, Kent Nagano dirigierte 2016 eine Ballett-Version in der Staatsoper. Doch Metzmacher ist nun der Erste, der den zeitentrückten Avantgarde-Kracher im Neubau an der Elbe komplett zum Krachen bringt (NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock hatte beim Eröffnungskonzert im Januar das Finale dirigiert). Metzmacher dirigiert das Gustav Mahler Jugendorchester, dem das Kunst-Handwerkliche keinerlei Probleme bereitet, mit klarer, unvernebelter Zielstrebigkeit, die dem Stück guttut und den Toyota-Saal als Aufführungsort konsequent ausreizt und miterleben lässt.
Das begann beim Klangfarbenflimmern, mit dem Messiaen immer wieder seine vielschichtige Themenverarbeitung glasiert hatte, und endete im Finale mit diesem appetitlich dröhnenden Schlussakkord, einem Fortissimo, das aber nicht in den Ohren klingelte, sondern vorführte, für welche akustischen Schwerlasten dieser Raum ausgelegt ist. Wie gut er mit derartigen Phon-Werten klarkommen kann, ohne ins kollabierende Scheppern abzugleiten. Wie souverän und geradezu instinktiv Metzmacher diesen Saal versteht, hatte er bereits vor einigen Monaten bei seinem Dirigat der Wiener Philharmoniker bewiesen. Für Zumutungen dieses Kalibers ist der Raum gedacht, mit ihnen blüht er auf, weil er gefordert wird.
Weil sich in den zehn Sätzen auch so etwas wie ein Klavierkonzert verbirgt, braucht es einen Solisten, der energisch genug mithalten kann: Jean-Yves Thibaudet ging in der Rolle des Starkstrom-Pianisten in der Bühnenmitte mächtig auftrumpfend auf. Neben ihm lieferte Valérie Hartmann-Claverie die klanglichen Special Effects, während die wabernden Ondes Martenot-Töne mitunter an einen unfreiwillig ins All katapultierten Hundewelpen erinnern. Doch auch diese wild schillernde Alien-Klangfarbe aus den gemütlichen alten Nachkriegs-Dekaden des Science-Fiction- und Horror-Kinos trug zur Faszination des Konzerts bei.
Interpretatorisch blieb Metzmacher seiner bewährten Perspektiv-Linie auf Neue Musik treu: Er sah und nahm Messiaens Sturzbach aus Ideen als Abfolge musikalischer Ereignisse, die klar denkend in inneren Zusammenhang zu bringen waren. Also eher kein samtiges Genießer-Schwelgen in der übersinnlichen Vielfalt der Klangfarbenwerte, eher eine sinnliche Darstellung dessen, was ist. Weniger französische Verspieltheit, wenn man mit diesen Klischees hantieren möchte, mehr deutsche Detailarbeit. Die Showwerte des Stücks an sich sind ja schon plakativ und Abenteuer genug.