Hamburg. Die Schweiz ist manchmal schwierig, Russland und China sind ganz anders: Drei Künstler erzählen von Erfahrungen mit Zuschauern.
Das Publikum. Innig umworben, geliebt, manchmal gefürchtet. Jeder Künstler braucht es. Erst in der Wahrnehmung durch den Zuschauer oder Zuhörer entsteht die Kunst. Bis Mitte September können Veranstalter von klassischen Konzerten und Opern ihr Publikum beim Hamburger Magazin „Concerti“ zum „Publikum des Jahres“ anmelden. Aber was macht eigentlich ein gutes Publikum aus?
Die aktive Teilnahme des Publikums ist seit der griechischen Antike bekannt. Das Theater spielte als soziale Kunstform eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben. Zur Zeit Shakespeares im 16. Jahrhundert zettelte das Publikum bei Missfallen Rangeleien an oder warf mit Speisen und Getränken. In den 1920er-Jahren orientierte Bertolt Brecht sein Theater an Sportveranstaltungen und förderte die Kommunikation zwischen Akteuren und Publikum. Heute gleicht die Energie, die zwischen Performer und Publikum entsteht, mitunter einem Rock-Konzert.
Die Beziehung zum Publikum ist für den Hamburger Thalia-Schauspieler und Serienstar („Vorstadtweiber“) Philipp Hochmair in seinen Soloabenden „Werther!“ oder „Jedermann“, in denen er mit einer Band auf der Bühne steht, essenziell. „Ich nehme das Publikum extrem wahr. Es ist mein wichtigster Partner. Ich fühle mich wie ein Pilot, der mit der Thermik und den Wetterdämonen arbeiten muss.“ Für ihn entsteht die Kunst erst im Echo, nicht im Erfüllen der Aufgabe.
Hochmair hat jüngst in einem österreichischen Thermalbad open air Schiller-Balladen präsentiert und die Besucher im direkten Dialog aufgefordert, sich Getränke zu holen. Er geleitet auch mal verspätete Besucher an ihre Plätze. Auch der Hamburger Theatermacher Falk Richter, ein international gefragter Regisseur und Autor, der ab Herbst am Schauspielhaus inszeniert, überlässt das Geschehen nicht seinen Akteuren auf der Bühne. „Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zu meinem Publikum.“
Unterschiedliche Erfahrungen
Regelmäßig sprechen ihn Besucher nach der Vorstellung an. „Es gibt in Berlin einige Zuschauer, die mir erzählen, dass sie bis zu 15-mal in einigen meiner Aufführungen waren. Die gehören schon fast zur Inszenierung wie die Schauspieler.“ Richter geht mit den von ihm verfassten Stücken auch auf Lesereisen. „Da spüre ich am direktesten, wie meine Texte auf meine Zuschauer wirken.“
Der Hamburger Musiker Andreas Dorau („Ossi mit Schwan“), dem gerade mit seinem zehnten Album „Die Liebe und der Ärger der Anderen“ erstmals der Einstieg in die Charts gelungen ist, schwärmt von ganz unterschiedlichen Erfahrungen. „Es gibt Städte, da habe ich 600 Leute und andere, da kommen bloß 150. Beide Situationen machen Spaß. Ich habe auch schon Konzerte vor 30 Leuten gegeben, die mit zu meinen schönsten Konzerterlebnissen zählen.“
Ganze Stadien zu animieren, wäre dem zurückhaltenden Künstler ein Graus. Mangelnde Distanz aber auch. „Es ist schon vorgekommen, dass Leute die Bühne gestürmt haben und mitsingen oder mich umarmen wollten – das fand ich immer schrecklich und bin davongelaufen“, erzählt der Sänger. In die Welt hinaus zieht es alle drei Künstler regelmäßig, und von dort bringen sie die unterschiedlichsten Erfahrungen mit.
„In Japan findet die Verehrung ganz anders statt als hier in Europa. Die Bühnensituation ist dort immer auch eine Bewunderungssituation – ein Teil eines Rollenspiels“, so Andreas Dorau. Seine schlimmsten Zuhörer fand er in der Schweiz. Sie betrachteten ihn eher als Jukebox, die nebenbei dudelt, während sie anderen Dingen nachgehen.
Publikum in Paris und Avignon ist gefürchtet
Auch Regisseur Falk Richter zeigt seine Arbeiten in der ganzen Welt von Moskau über China bis Australien. „Das Publikum in Paris und Avignon ist international sehr gefürchtet, da es oftmals eine gewisse Arroganz ausstrahlt – aus dem Gefühl heraus, bereits alles gesehen zu haben. Umso glamouröser und frenetischer fallen dann die Begeisterungsstürme aus, wenn man es geschafft hat, die Zuschauer mitzureißen.“ Genau das ist ihm gelungen.
Richters französische Produktion „Je suis Fassbinder“ gastierte einen Monat lang in Paris. Das schlimmste Publikum sei für ihn „dieser kunstfeindliche Club von golfenden Steuerhinterziehern in Salzburg bei den Festspielen“. Ein Publikum, das sich darüber ereifert, wie ‚man das Stück eigentlich hätte inszenieren sollen‘. Die Früher-war-alles-besser-Konsumenten. „In Salzburg kommt das Publikum zusammen, um sich selbst zu feiern und seine Verachtung für die Kunst auszudrücken“, so Richter.
Kulturelle Missverständnisse
Russland und China sind weltweit sicherlich die verschlossensten Orte, die zu den größten kulturellen Missverständnissen zwischen Künstler und Publikum führen. Richter teilte auf Macau in China einmal den repräsentativen Zuschauersaal mit 1500 Besuchern. „Ich war jedes Mal mit politischen Stücken dort, die auch demokratische Widerstandsbewegung gegen autoritäre Regime thematisierten.“ Es war nicht abzusehen, ob es Widerspruch geben oder die Vorstellungen unterbrochen werden würde. „Ich weiß bis heute nicht einmal, ob mein Text überhaupt korrekt übertitelt oder ob er zensiert wurde.“
In Japan hat Philipp Hochmair in der Begegnungsszene Werthers mit Lotte einen kitschigen japanischen Popsong gespielt, was die tapfer Übertitel lesenden Zuschauer dankbar aufgriffen. In Sibirien hat er sich in einer albernen „Werther“-Szene den scherzhaften Zusatz „Putin ist schwul“ erlaubt. Das fanden hingegen nicht alle lustig. Teilnahmslosigkeit hat er dabei jedoch nie erlebt.
Nachhaltiges Erlebnis
Ausgerechnet in Stuttgart hatte Andreas Dorau sein nachhaltigstes Erlebnis. Sein Mikrofon wie ein Lasso schleudernd, löste es sich und flog ins Publikum. Hollywood-Blockbuster-
Regisseur Roland Emmerich fing es auf und warf es zurück, rechtzeitig zum Gesangseinsatz. „Da war Magie, ganz wie eine Szene aus einem seiner Filme.“
Hochmair will Literatur auch körperlich erlebbar machen. „Ein direkter Kontakt in Kombination mit einer großen Ernsthaftigkeit ist eine tolle Rezeptur. Das ist Entertainment. Es geht ja darum, dass da was passiert.“ Der Schauspieler konfrontiert das Publikum mit dem, was er einen „alchimistischen Prozess“ nennt, indem er den Text in der Performance hochkocht. Das funktioniert auch in China, wo die Besucher seine „Jedermann“-Darstellung vom Leben und Sterben des reichen Mannes direkt auf die eigene politische Elite bezogen. „Ein gutes Publikum tanzt mit mir elegant und respektvoll, lässt sich führen und behält seine Persönlichkeit. Nichts ist schlimmer, als wenn die Leute über jeden Witz laut lachen.“
Lust auf Neues
Das Hamburger Publikum, da sind sich die drei einig, ist eines der besten. „Es ist sehr offen, hat Lust auf Neues, lässt sich gern mal überraschen und geht erst mal mit einer positiven Grundhaltung ins Theater“, sagt Falk Richter. „In Hamburg wird das Publikum eher langsam warm und man weiß eigentlich erst beim letzten Stück, ob man gut angekommen ist oder nicht“, sagt Andreas Dorau. Aber wenn man es einmal gewonnen hat, geht es so schnell nicht mehr verloren.
Philipp Hochmair 18.9. „Amerika“, Thalia Gaußstraße, 19.9. „Werther!“, Thalia Theater, Spielfilm „Animals“ von Greg Zglinski ab 9.11. im Kino; Falk Richter 28.10. UA „Am Königsweg“ von Elfriede Jelinek, Schauspielhaus, „Ich bin Europa: Fear und andere Theaterstücke“, ab 1.9., Verlag Theater der Zeit; Andreas Dorau „Die Liebe und der Ärger der Anderen“, Staatsakt, 10.11. Konzert 15 Jahre Tapete Records, Knust Hamburg