Wacken. In der norddeutschen Provinz dreht sich wieder alles um Metal. Matthias Gretzschel und Thomas Andre waren auf Expedition.

Der Mythos Wacken besteht aus Metal, Matsch, Menschen – und vielem mehr. Seit 1990 hält der Wahnsinn in der schleswig-holsteinischen Provinz Sommer für Sommer Einzug. Wobei Sommer relativ ist. Als die Abendblatt-Redakteure Matthias Gretzschel und Thomas Andre am Donnerstagmittag das riesige Festival „Wacken Open Air“ („W:O:A“) ansteuerten, ballte sich über ihrem Auto ein furchterregendes Gewölk – schaurig-schön, als wäre es von Caspar David Friedrich oder Emil Nolde hingemalt. Gretzschel, 60, und Andre, 39, sind nicht die typischen Metalheads. Eigentlich hören sie noch nicht einmal Metal. Tatsächlich waren sie noch nie in Wacken. Aber sie haben schon viel davon gehört. Am Ende eines ereignisreichen Tages werden sie feststellen: Es ist wirklich alles genau so, wie man sich das immer vorgestellt hat. Lesen Sie im Folgenden den Dialog der beiden späten Wacken-Frischlinge.

Novizen: Abendblatt-Redakteure Thomas Andre (r.) und Matthias Gretzschel
Novizen: Abendblatt-Redakteure Thomas Andre (r.) und Matthias Gretzschel © Rauhe



Thomas Andre:
Deine größte Sorge war der Dresscode. Du hast dich für Karohemd und Allzweckjacke entschieden. Auch ich trage ein halbwegs manierliches Hemd. Glaubst du, wir werden in all der Schwarzkuttenherrlichkeit umstandslos als Oberstudienräte identifiziert, die mal ganz crazy sein wollen?
Matthias Gretzschel:
Die Befürchtung hatte ich tatsächlich und sogar kurzfristig erwogen, mir eine schwarze Kutte besorgen. Dabei ist die Ober­bekleidung überhaupt kein Problem, selbst wenn ich im Talar eines Pastors oder mit Frack und Zylinder vor der Beer Garden Stage aufgetaucht wäre, hätte das keiner zur Kenntnis genommen. So einheitlich schwarz sind die Jungs gar nicht, man sieht alle möglichen Verkleidungen und Farben und viel nackte Haut, die aber möglichst ­tätowiert sein sollte. Viel problematischer war die richtige Wahl der Schuhe, aber das hast du ja selbst erfahren …

Willkommen in Wacken, wo die Menschen zuweilen den kleinen und den Zeigefinger ausfahren. Ein Erkennungsmerkmal
Willkommen in Wacken, wo die Menschen zuweilen den kleinen und den Zeigefinger ausfahren. Ein Erkennungsmerkmal © Michael Rauhe

Andre: Es ist eine wahre Bilderflut, die seit Jahren aus Wacken in die Welt schwemmt. Man sieht auf diesen Fotos beinah immer: Schlamm. Trotzdem bin ich jetzt verblüfft. Schöner, großflächiger kann man sich Pampe nicht vorstellen. Aber während ich verkniffen mit meinen Adidas-Halbschuhen – ich besitze keine Gummistiefel – durch die Festival-gewordene Fango-Packung stakse, schreitet der durchschnittliche Wacken-Gänger recht selbstbewusst aus. Er ist in seinem natürlichen Habitat.

Tamara aus Roetgen beim Headbanging, das bei Heavy-Metal-Fans sehr beliebt ist
Tamara aus Roetgen beim Headbanging, das bei Heavy-Metal-Fans sehr beliebt ist © dpa | Christophe Gateau

Gretzschel: Bis Donnerstag habe ich die typischen Schlamm-Bilder dummerweise für Inszenierungen gehalten und auf Gummistiefel verzichtet. Obwohl ich Wanderschuhe trage, bin ich eben manchmal einfach nicht durchgekommen und musste irgendwie eine Furt durch den Modder finden. Aber Du hast recht, hier sind wir bisher vor allem mit unserem unbeholfenen Gang aufgefallen, die normalen Metalheads bewegen sich selbst in knietiefem Sumpf, als würden sie über den roten Teppich schreiten. Einige sind mutwillig und spritzen den Dreck mit Wonne um sich. Übrigens habe ich einen Verdacht: Da der Schlamm so konstitutiv zu Wacken gehört, wird er wahrscheinlich sogar vor Festivalbeginn von den W:A:O Firefighters künstlich erzeugt. So viel hat es im Vorfeld gar nicht geregnet…

Wacken ohne Pampe


Andre:
Ha! Da würde dir der Meteorologe widersprechen. Ich gebe dir dennoch recht: Wacken ohne Pampe wäre für viele eine Enttäuschung. Wo du die Feuerwehrkapelle ansprichst: Wie findest du die Folklore ­inmitten des riesigen Kommerzgebildes „Wacken Open Air“?
Gretzschel:
Sympathisch, sehr sympathisch. Und auch sehr deutsch, die Feuerwehrkapelle gibt dem internationalen Mega-Event so etwas wie eine nationale und lokale Erdung. War auch nett anzusehen, wie die Wackengemeinde das Blasorchester gefeiert hat.
Andre:
Ich wiederum finde zum einen den Spiel- und Schmutztrieb - wir haben einige mutwillige Schlammbäder betrachten dürfen – sympathisch. Überhaupt scheint mir das Publikum hier nichts anderes als freundlich zu sein. Es mögen einem die ­Ohren wegen all des aggressiven Geknüppels und Gekreischs auf der Bühne dröhnen; dennoch habe ich noch nie auch so viel Vertrauen in die Friedlichkeit der Leute ­gesehen. Die balancieren hier nicht nur trunken Pils in Plastik-Bechern durch die Gegend, sondern auch gefährlich aussehende Glashumpen. Ich fürchte, wir müssen jetzt trotzdem mal über die Musik sprechen. Du hast eben, lieber Matthias, zumindest versuchsweise ein bisschen im Rhythmus den Kopf nach unten und dann wieder nach oben bewegt.

"Mich nervt der Gesang"


Gretzschel:
Genau – versuchsweise! Irgendwie ist mir die Musik schlicht zu eintönig, mich nervt vor allem der kreischende Gesang. Das klingt immer furchtbar ­aggressiv, was einen merkwürdigen Gegensatz zur entspannten Freundlichkeit des Fans bildet. Fürs Headbanging, das mich schon reizen würde, bin ich außerdem 40 Jahre zu alt. Mit 20 hätte ich das haartechnisch noch mühelos hingekriegt, leider war das rhythmische Kopfschütteln damals noch nicht erfunden. Aber wahrscheinlich ist mir das wahre Wacken-Feeling auch versagt ­geblieben, weil ich unter den 75.000 ­Besuchern wohl der Einzige war, der – ausschließlich aus Fahrtüchtigkeitsgründen – keinen Tropfen Bier zu sich genommen hat. Bei dir war das ja ganz anders: Also, hat es was genützt?
Andre:
„Ganz anders“ ist jetzt etwas übertrieben! Sagen wir so: Als ich mein tatsächlich einziges Festivalbier in der Hand hielt, fiel ich weniger auf. Ich fühlte mich für den ­Augenblick aufgenommen in die Gemeinde, von denen nicht wenige noch älter sind als wir. Wir würden hier auch als Feldforscher durchgehen mit unseren Notizblöcken. Die Menschen vom Stamme Metal, ihre Rituale und Erkennungszeichen – da fällt dir doch sicher etwas zu ein.

Gretzschel: Bei der Betrachtung der Schlammbäder fiel mir eine erstaunliche Ähnlichkeit zu einem Volk im Hochland von ­Papua-Neuguinea ein. Das sind die Asaro Mudmen, die sich als „Schlamm-Menschen“ großer Beliebtheit erfreuen. Der Legende nach sollen sie auf der Flucht vor Feinden in einen verschlammten Fluss gefallen sein. Als sie sich aus dem Matsch erhoben, waren ihre Köpfe so schrecklich verschlammt, dass die Feinde sie für böse Geister hielten und flohen. Inzwischen sind sie eine Touristenattraktion. Vielleicht sollte man die Asaro Mudmen mal nach Wacken einladen, da könnte ich vermitteln.

Die Teufelshörner


Andre:Großartige Idee. Ich könnte mir auch vorstellen, dass es Stämme gibt, die irgendeine Form von beschwörendem Gesang kennen, der so kriegerisch klingt wie das, was wir hier zu hören bekommen. Der Gruß der Metal-Fans, die berühmte „Pommesgabel“, die Teufelshörner: Vielleicht gibt es den ja auch im Urwald. Ich habe hier matschfarbene Kriegsbemalung, ich habe Jackenaufnäher, also skalpartige Sammelstücke, und ich habe, nun ja, in der Gruppe aufgeführte Tänze gesehen. Man legt es hier ­darauf an, dass der Beobachter mit ethnologischen Begriffen hantiert!
Gretzschel: Sorry, die „Pommesgabel“ ist mir noch in keinem Urwald begegnet, aber kriegerische Gesänge und Tänze, die mit ihren stampfenden Rhythmen durchaus an Heavy-Metal erinnern, sind in der Südsee ziemlich verbreitet. Was man mal ethnologisch untersuchen müsste, sind Riten des W:O:A wie diese: Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass dort die Schamgrenze ziemlich weit verschoben ist, was sich zum Beispiel an den gut einsehbaren Pissoirs erkennen lässt, für die die Bezeichnung „öffentliche Toilette“ eine völlig neue Bedeutung erlangt.
Andre:Wacken, das bedeutet auch ein bisschen gewollter Kontrollverlust und kalkulierte Sauerei. Du fährst morgen deinen Wagen in die Waschanlage, ich schmeiße meine Schuhe in den Müll. Das war es jedoch wert.