Hamburg. Benny Ruess beschallt seit 25 Jahren Dutzende Clubs der Stadt. Kann man im Rock ‘n’ Roll eigentlich gut altern?
Natürlich, so erzählt Benny Ruess, gibt es diese Songs, die immer gehen. Die alle mitsingen können. Die die Tanzfläche garantiert füllen. Hundertmal gehörte Hits von den Beatles, von Oasis und Blur. Die Körper bewegen sich dann nahezu automatisch, da sie Rhythmus, Melodie, Gesang in jeder Faser abgespeichert haben. Doch einer wie Ruess, der seit 25 Jahren in Hamburg Musik auflegt, der ist vor allem dann glücklich, wenn er die Menge mit Neuem in Wallung bringen kann.
„Ich freue mich am meisten, wenn die Leute den Song nicht kennen und trotzdem tanzen – einfach, weil das Stück so gut ist“, erzählt Ruess beim Bier im Saal II am Schulterblatt. Viele der Läden, in denen er Ausgehwütigen bereits selige Stunden unter der Discokugel beschert hat, liegen in Spuckweite entfernt. Sein Äußeres schreit nicht nach Rock ‘n’ Roll, sondern sieht mit Jeans, Polo-Hemd und Sakko eher nach einem entspannten Zugang zur Szene aus. Auch trägt er nicht die verwitterten Züge einer versackten Nachtgestalt. Das gute wilde Leben in der Nacht und die Familie tagsüber zum Ausgleich, das scheint bestens zu funktionieren.
Es macht noch Spaß
Macht’s denn noch Spaß? Ruess antwortet sofort mit einem „Jaaa“ und zieht an seiner Zigarette. Da blitzt etwas in seinen Augen auf. Energie. Der 44-Jährige ist ein gutes Beispiel dafür, dass Popkultur keine Altersgrenze kennt.
„Es gibt ja diese These, dass Menschen jenseits der 30 aufhören, sich für Musik zu interessieren“, erzählt Ruess – und winkt ab. Für ihn treffe das ganz und gar nicht zu. „Es gibt da draußen so viele gute neue Sachen. Solange ich Fan von Musik und Bands bin, hört die Leidenschaft nicht auf“, erklärt Ruess – ohne jenen Zynismus, den so manchen in der Branche nach einer Weile befällt. Es ist also möglich, im Rock ‘n’ Roll in Würde zu altern, so lange das Feuer brennt. So lange nicht nur das Alte auf Dauerrotation läuft. Und so lange die Lust besteht, sich mit den Menschen, mit den Orten, mit der Stadt zu verbinden.
Seit der Teenager-Zeit in der Szene
Ruess, der sich auf Indierock sowie Britpop spezialisiert hat und mit dem „Revolver Club“ eine eigene Marke für diesen Sound schuf, hat sich seit seiner Teenager-Zeit mit der Szene verwoben. Er ist wie ein wandelndes Glossar hiesiger Ausgehkultur. Aus seiner Heimat Henstedt-Ulzburg fuhr er zu Abi-Zeiten Anfang der 90er-Jahre regelmäßig ins Kir, einer Schuhschachtel von Club an der Max-Brauer-Allee, wo Musik von Bands wie The Smiths und The Cure lief. Melancholische Songs, tanzbarer Weltschmerz. Die Mauer war gefallen, das Land feierte im Techno-Fieber. Läden wie das Kir waren Schlupflöcher jenseits dieser kollektiven Party.
„Ich komme aus einem relativ konservativen Elternhaus, aber meine Musikbegeisterung haben meine Eltern immer unterstützt“, erzählt Ruess. Die „Bravo“ durfte er nicht lesen, stattdessen Magazine wie den „New Musical Express“ und den „Melody Maker“. Montagabends traf er sich mit Gleichgesinnten und schnitt bei Radio Bremen die Sessions des legendären britischen DJs John Peel mit. „Das klingt jetzt vielleicht total romantisiert, aber das Tollste war es, mit Freunden zusammenzusitzen, Bier zu trinken, die Sendung aufzunehmen und sich Notizen zu machen, um dann in die Plattenläden zu gehen, zu WOM oder Michelle Records“, erinnert sich Ruess. Man sei eben so hinein- gerauscht in dieses Musikding.
Auch Booker und Konzertveranstalter
„So etwas wie soziale Netzwerke oder einen Medienstudiengang gab’s damals ja alles nicht“, sagt Ruess, der zudem als Booker und Konzertveranstalter arbeitet. Viel lief früher über „Hast du das schon gehört?“ Pop war geheimnisvoll, wollte erschlossen werden und lag nicht sofort offen da auf der Oberfläche eines Rechners oder Smartphones. Die Kontakte waren analog.
Und so wurde Ruess eines Tages Anfang der 90er von Sven Wagner, einem Zivi-Kumpel, angesprochen: ob er nicht mit ihm auflegen wolle. Im Pickenpack, einem Laden am Schulterblatt, in dem heute ein Asia-Restaurant zu Hause ist. „Die Lieder waren gut, die Übergänge holprig“, erinnert sich Ruess und lacht. Doch all die Stunden an der Anlage zwischen Zigarettenqualm und Bierdunst waren die beste Schule.
Geschichte einer urbanen Clubkultur
Seitdem hat er seine Plattenkoffer in viele Clubs getragen, lange Jahre gemeinsam mit seinem Revolver-Club-Partner Marco Flöß. In die Absackerkneipe Blauer Peter am Hamburger Berg und in das längst geschlossene Heinz Karmers Tanzcafé an der Budapester Straße etwa. Ins Molotow, damals noch am Spielbudenplatz, und in den mittlerweile abgebrannten Pudel Club am Fischmarkt. Später ins Knust, auf die Barkasse „Hedi“, ins Uebel & Gefährlich und in den Grünen Jäger, zudem in Clubs in Oldenburg, Bremen, Kiel, Hannover, München und Zürich.
Seine DJ-Vita spiegelt die Geschichte einer urbanen Clubkultur, die sich stets neu erfinden muss, die wieder und wieder Pionier ist. Die Orte bespielt, bis diese abgerissen, saniert, umgenutzt wurden. So wie das Mandarin Casino an der Reeperbahn oder das Echochamber im Nobistor-Komplex, wo sich Anfang der Nuller-Jahre zahlreiche Ausgehstätten unter einem Dach versammelten.
Er bleibt bei Trends gelassen
Wer so viel erlebt hat, bleibt bei aktuellen Trends gelassen. „Momentan hört das Party-Volk lieber Electro, Hip-Hop und Trash aus den 80ern und 90ern, weniger Gitarrenmusik“, sagt Ruess – und ergänzt: „Aber das kommt alles in Wellen.“ Nach wie vor arbeitet er mit CDs und Vinyl. Mitunter stünden die digital aufgewachsenen Kids dann mit großen Augen vor seinem DJ-Pult.
Was Tonträger angeht, ist Ruess eben alte Schule. Und vielleicht freut er sich daher besonders auf das Summer’s Tale Festival bei Lüneburg mit tendenziell älterem Publikum. „Ich habe dort schon zweimal aufgelegt und hatte den Eindruck, dass die Leute sehr musikinteressiert sind. Viele haben sich auch nach unbekannten Stücken erkundigt.“
Da ist es wieder, das Glück des DJs.