Hamburg. Christoph Martin Vogtherr stammt aus Uelzen, arbeitete in Frankreich und England. Was für das Haus von Vorteil sein könnte.

Man kann es als klares Statement verstehen, dass Christoph Martin Vogtherr zum Gespräch im Café Liebermann mit einem EU-Pin am Revers erscheint. Vor allem wenn man weiß, dass er noch vor Kurzem in London gelebt hat. „Es ist traurig, was sich dort gerade abspielt, und meine Londoner Freunde sind alle sehr unglücklich über den Brexit“, sagt Vogtherr.

Im Oktober hat er die Nachfolge von Kunsthallen-Chef Hubertus Gaßner angetreten, inzwischen ist er hier längst heimisch geworden, nicht nur in seinem Museum, zunehmend auch in seinem neuen Wohnort. Nach Stationen in Potsdam und Paris leitete der promovierte Kunstexperte, der in Berlin, Heidelberg und Cambridge Kunstgeschichte, Mittelalterliche Geschichte und Klassische Archäologie studiert hat, zuletzt die Londoner Wallace Collection. Zu den Spitzenwerken dieser hochkarätigen ehemaligen Privatsammlung gehören Gemälde von Tizian, Velázquez, Watteau, Turner, Rembrandt und Rubens. An der Sammlung lag es jedenfalls nicht, dass ihm der Abschied nicht besonders schwerfiel. „Die Stimmung in London ist schlecht, denn das Land bewegt sich massiv in die falsche Richtung“, sagt er.

"Der Direktor wovon?"

Als der heute 52-Jährige seinen englischen Freunden eröffnete, dass er Chef der Hamburger Kunsthalle werde, fragten sie zunächst ratlos zurück: „Du wirst Direktor wovon?“ Die Hamburger Kunsthalle war vielen seiner Bekannten kein Begriff; erst als er ihnen sagte, dass dort zum Beispiel Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ und die „Nana“ von Édouard Manet hängen, wurde ihnen klar, um welche Kategorie von Museum es sich hier handelt.

Vogtherr ist vor allem Experte für französische Kunst des 18. Jahrhunderts, und Frankreich bezeichnet er als sein eigentliches Lieblingsland. Trotzdem hat er sich, als er 2007 zur Wallace Collection ging, in London sehr wohlgefühlt. „Das ist ein sehr offener Ort, der viele Chancen bietet für Menschen, die von außerhalb kommen, auch für deutsche Museumsdirektoren“, sagt der Kunsthistoriker.

Etwa ein Drittel seiner Mitarbeiter an der Wallace Collection seien Ausländer gewesen, eine Quote, von der die Hamburger Kunsthalle meilenweit entfernt ist. Einen Zuwachs an Internationalität, auch was die Mitarbeiter betrifft, hält der neue Direktor in Hamburg für wünschenswert. Auch, um die internationale Ausstrahlung der Kunsthalle zu erhöhen. „Ich finde, dass dieses Museum angesichts seiner Bedeutung international noch viel bekannter sein müsste. Wir fangen natürlich nicht bei null an, gerade die Experten kennen die Kunsthalle selbstverständlich, trotzdem müssen wir viel mehr erreichen“, sagt Vogtherr.

Der erste Aufstieg

Als er im Oktober sein Amt antrat, begann gerade das letzte Quartal des erfolgreichsten Jahres in der Geschichte der Hamburger Kunsthalle. Nach offizieller Zählung kamen 2016 insgesamt 526.000 Besucher, mehr als jemals zuvor. Nach mehrjährigem Umbau und Modernisierung präsentiert sich das Museum heute geradezu glanzvoll. Als Sanierer ist Vogtherr also nicht nach Hamburg gekommen. Hat er es jetzt, nach Brecht, mit den „Mühen der Ebene“ zu tun? „Ich glaube eher, es ist die Freude, das erste Plateau des Aufstiegs erreicht zu haben. Wir sind wirklich gut aufgestellt, auch in der Stadt fest verankert“, sagt der Kunsthistoriker, der nun eine intensive Programmdiskussion führen und vor allem auch neue Vermittlungsformen ausprobieren will.

Wie erklärt man einem Museumsbesucher ein Bild?

Einerseits ist er froh, dass er sich zurzeit nicht um Bauprojekte kümmern muss, andererseits weist er darauf hin, dass es zumindest in einem Gebäudebereich, nämlich im Kupferstichkabinett samt Bibliothek und Archiv, noch dringenden Sanierungsbedarf gibt. Zunächst muss aber eine Machbarkeitsstudie dazu erarbeitet werden, um den genauen Bedarf zu ermitteln. Und natürlich auch die Kosten, die er zurzeit auf einen einstelligen Millionenbetrag schätzt. Kurzfristig lässt sich das Projekt ganz sicher nicht realisieren, die fünf Jahre, die der Direktorenvertrag erst einmal läuft, dürften dafür zu knapp bemessen sein.

Vor einer guten Woche hat der neue Chef mit „Open Access“ seine erste eigene Ausstellung eröffnet und damit gleich ein Experiment gewagt. Gemeinsam mit zwölf in Hamburg lebenden Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen hat er diese Ausstellung konzipiert. Einerseits ist das ein neues und ungewohntes Format, andererseits bezieht sich Vogtherr aber mit diesem Experiment auch bewusst auf Alfred Lichtwark, den Gründungsdirektor der Hamburger Kunsthalle, der sich auch stets um zeitgemäße Bildungs- und Vermittlungsformen bemüht hatte. „Ich finde, dass wir neben den klassisch kuratierten Ausstellungen, die nach wie vor unser Kerngeschäft sind, eben auch andere Vermittlungsformen entwickeln müssen. Wir werden sehen, wie das mit ‚Open Access‘ funktioniert und ob wir weiter in diese Richtung gehen können“, sagt Vogtherr, der die Wirkung und Akzeptanz der Ausstellung intensiv erforschen lassen will.

Konsequenzen für die Arbeit

Natürlich spielen Besucherzahlen für den Chef zwangsläufig eine Rolle, schon allein aus wirtschaftlichen Gründen. Vor allem weiß er aber, dass sich das Museumspublikum enorm verändert hat und heute über viel weniger klassischen Bildungshintergrund verfügt als noch vor zehn oder 20 Jahren. „Das hat für unsere Arbeit enorme Konsequenzen“, sagt Vogtherr, der jetzt im Haus eine intensive Diskussion darüber führt, welche Informationen man den Besuchern auf welche Weise vermitteln soll. „Es wäre zum Beispiel unsinnig, neben den Meister-Bertram-Altar drei Seiten Text zu hängen, den dann sowieso niemand liest. Ich erhoffe mir mehr von einem wirklich gut gemachten Multi-Media-Guide, der genau die Fragen ­beantworten kann, die auch tatsächlich gestellt werden. Ich bin aber auch ein großer Anhänger von persönlichen ­Vermittlungsformen“, sagt der Museumsdirektor. Er weiß sehr genau, wie schwierig es ist, gute Museumstexte zu formulieren: Texte, die nicht von Experten für Experten geschrieben sind, sondern Menschen ein Kunstwerk einleuchtend erklären und Interesse daran wecken.

Er stammt aus Uelzen

Christoph Martin Vogtherr stammt aus Uelzen, kam aber bei Hamburg-Besuchen mit der Familie schon als Kind immer wieder in die Kunsthalle, die er später nach und nach besser kennengelernt hat. Aber gelebt hat er früher nie in Hamburg. „Ich mag die Stadt sehr, denn sie hat für mich eine sehr angenehme Gesamtatmosphäre, die bunt und offen ist. Ich finde es auch wohltuend, dass hier viel Raum ist und keine Enge herrscht, dass man weit sehen kann und dass die Stadt ausgesprochen international wirkt.“ Den Moment, als er mit ein paar Koffern auf dem Hamburger Flughafen ankam und wusste, dass er nun hier leben wird, empfand Christoph Martin Vogtherr als ermutigend. Er stieg in die S-Bahn, sah sich um, beobachtete die Menschen und stellte erleichtert fest, dass das die gleiche internationale und multikulturelle Mischung war, wie er sie aus London gewohnt war.

In Bergedorf heimisch geworden

Inzwischen ist er in Bergedorf heimisch geworden, bewohnt mit seinem Mann eine Gründerzeitwohnung, die im Grünen liegt. Sein Mann ist Engländer und hat früher nie Deutsch gesprochen, sich aber jetzt darauf eingelassen. „Vor etwa acht Wochen haben wir zu Hause umgestellt, sprechen jetzt Deutsch miteinander. Das ist noch manchmal mühsam, mitunter kriegt mein Mann dabei noch Schweißausbrüche, wenn er nach einer Vokabel oder einer Formulierung sucht, aber meistens mag er es, und es geht auch schon ganz gut.“

Ins Thalia Theater und ins Schauspielhaus geht Vogtherr noch allein, hofft aber, dass sein Partner die Sprachbarriere bald überwunden hat. Gemeinsam besucht das Paar schon jetzt gern Konzerte, oft in Kirchen, manchmal auch in der Elbphilharmonie und in der Oper. Die Bandbreite der Programme reicht von Modern Dance bis zurück zur Barockmusik. „Bei meinen Eltern hieß Bach immer ‚der Chef‘, und irgendwie ist er es für mich bis heute geblieben“, sagt der neue Direktor der Kunsthalle, der die Vorliebe für den Leipziger Thomaskantor, der sich einst vergeblich auf eine Stelle in Hamburg beworben hatte, übrigens mit seinem englischen Mann teilt.