Hamburg. Eigentlich arbeitet er als Aufsicht in der Kunsthalle, doch Ismet Apaydin hat auch eine ganz eigene Kunstform entwickelt.

Es ist ein harter Job, in dem die Zeit lang werden kann. Als Aufsichtskraft steht Ismet Apaydin stundenlang in Sälen der Kunsthalle und achtet darauf, dass alles seine Ordnung hat und nichts passiert. Er hat die Besucher im Blick und die Kunstwerke, er mahnt freundlich, wenn sich jemand einem der Bilder zu sehr nähert, gibt hin und wieder Auskunft, und wenn zum Beispiel jemandem schlecht wird, ist er zur Stelle und ruft sofort Hilfe herbei. Aber normalerweise passiert nichts. Stundenlang, tagelang geht alles seinen gewohnten Gang.

Die Besucher kommen, betrachten die Bilder und gehen wieder, nur Ismet Apaydin bleibt und macht seinen Job. Er kennt jeden Saal mit den jeweiligen Bildern, weiß genau, wo die Werke hängen, nach denen ihn die Besucher fragen: Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ zum Beispiel oder die „Nana“ von Édouard Manet. Selbst wenn er die Augen schlösse, würde er sie wohl noch vor sich sehen, so vertraut sind sie ihm durch die jahrelange Betrachtung. Aber als Aufsicht schließt er die Augen natürlich nicht, denn Aufmerksamkeit ist seine vornehmste Pflicht.

Die Ausstellung

Eigentlich wollte der 60-jährige Türke etwas ganz anderes werden, hatte in Ankara schon mit dem Architekturstudium begonnen, reiste aber in den Wirren der türkischen Innenpolitik bald darauf nach Deutschland. Als 24-Jähriger fand er in Hamburg eine neue Heimat. Auch hier, sagte sich der junge Mann, kann ich Architektur studieren.

Da er aber zunächst noch keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung vorweisen konnte, akzeptierte ihn die Uni nicht. Hätte er andererseits eine Studienzulassung vorlegen können, wäre ihm die Aufenthaltsgenehmigung sofort erteilt worden – ein Teufelskreis und eine bittere Lehrstunde in Sachen bundesdeutscher Bürokratie. Doch Isi, wie ihn seine Freunde und Kollegen nennen, ließ sich nicht entmutigen, arbeitete in verschiedenen Jobs, betrieb acht Jahre lang einen Imbiss und landete schließlich als Aufsichtskraft in der Kunsthalle.

Schwere Umstellung

Für jemanden, der mit den Händen zu arbeiten gewohnt war, bedeutete das eine schwere Umstellung. „Ich stamme aus einer Handwerkerfamilie. Spielzeug konnten meine Eltern mir nicht kaufen. Das habe ich mir selbst gebaut“, erzählt Isi, als wir ihn jetzt zum Gespräch im Café Liebermann treffen. Längst ist ihm Hamburgs großes Kunstmuseum zur Heimat geworden. Aufsichtskollegen und Kuratoren, die sich hier zur Kaffeepause treffen, grüßen freundlich.

Dass auch manche Besucher den Mann mit Schnauzbart und dem verschmitzten Lächeln längst kennen, hat einen besonderen Grund. Isi bückt sich und holt aus seiner Tasche eine Blechkiste hervor, die er auf den Bistrotisch des Cafés stellt. Er öffnet sie, packt kleine Papierfiguren aus und stellt sie auf den Tisch: eine Kröte, ein Schaf, einen Pinguin, Frösche, Autos, Flugzeuge, einen Weihnachtsmann und einen Osterhasen. Dann holt er größere Objekte hervor, Schiffe zum Beispiel und ein Kettenkarussell, das sich sogar drehen lässt.

„Das ist alles Isigami“, sagt Isi nicht ohne Stolz. Während immer mehr Besucher des Kunsthallen-Cafés neugierig zu uns und den auf dem Bistrotisch versammelten Papierkunstwerken her­überschauen, erzählt Ismet Apaydin die ganze Geschichte seiner außergewöhnlichen Kunst. Es war vor zehn Jahren, als die Kunsthalle die Malewitsch-Ausstellung „Das schwarze Quadrat“ zeigte. Auf der Plattform zwischen Gründungsbau und Galerie der Gegenwart hatte damals der deutsche Künstler Gregor Schneider seinen schwarzen Kubus aufgestellt, ein ziemlich kontrovers diskutiertes Werk, das nicht zufällig an die Kaaba in Mekka erinnerte.

Irgendwann, als Isi am Eingang stand und die Karten abriss, bewegte er die rechteckigen Kartenabrisse zwischen den Händen. Später, im Pausenraum, begann er sie zu falten und entdeckte dabei, dass sich aus dem „Abfall“ Objekte gestalten lassen. Und auf einmal war ein weißer Kubus entstanden, auf dem man auf einer Seite ein schwarzes Quadrat entdecken konnte – Isis ganz eigene Interpretation von Gregor Schneider und Kasimir Ma­le­witsch. „Ich habe das damals Felix Kremer geschenkt, dem Kurator der Ausstellung."

Nur drei Techniken

Dem gefiel das so gut, dass er den Kubus auf seinen Schreibtisch stellte.“ Als der damalige Kunsthallen-Direktor Hubertus Gaßner das kleine Kunstwerk dort entdeckte, wünschte er sich auch eins. „Krämer bat er mich darum, auch für den Kunsthallen-Direktor einen solchen Kubus zu falten und fragte dann, ob ich nicht noch andere Sachen machen könnte“, erzählt Isi, der sich nun immer intensiver mit einer Kunstform beschäftigte, für die er sich eine strenge Beschränkung auferlegte: Als Material dienen ihm ausschließlich die 25 mal 64 Millimeter großen Abrisse der Kunsthallen-Eintrittskarten, die seine Aufsichtskollegen seither für ihn sammeln.

Um Kunstwerke daraus zu kreieren, nutzt er nur drei Techniken: Falten, Rollen und Stecken. Es wird weder geklebt noch geschnitten, weder geheftet noch bemalt. In Anlehnung an Origami, die traditionelle japanische Kunst des Papierfaltens, nannte Ismet Apaydin seine Kunst Isigami.

Er begann mit einfachen Figuren

Was daraus werden sollte, hätte er sich am Anfang kaum vorstellen können. Er begann mit einfachen Figuren, entwickelte aber mit der Zeit auch immer kompliziertere Konstruktionen, bei denen mitunter die architektonischen Ambitionen seiner Jugendzeit wieder sichtbar wurden. So entstanden nicht nur allerlei Lebewesen und Objekte wie Autos, Flugzeuge und Schiffe, sondern Bauwerke, für die Isi manchmal Hunderte von Abrissen verbrauchte. „Kannst du mir mal eine Katze falten“, fragte ihn eine Kollegin, die diese wunschgemäß ausgeführte Auftragsarbeit später geschenkt bekam. Die Katzen sind inzwischen ein Klassiker, wie auch die Kröte, die dank der Papierspannung sogar hüpfen kann.

Immer wieder verschenkt Isi diese kleinen Kunstwerke an Besucher, keineswegs nur an Kinder, auch Erwachsene sind beglückt, wenn sie ein Isigami-Werk überreicht bekommen. Jedes ist ein Unikat, denn auch wenn Isi gerade bei den einfacheren Figuren auf bestimmte „baugleiche“ Typen zurückgreift, gibt es schon aufgrund der unterschiedlichen Aufdrucke immer Unterschiede.

Gearbeitet wird zu Hause, am Wohnzimmertisch, wo Isi sich mit seinem Material ausbreiten kann, was bei seiner Frau nicht immer auf Begeisterung stößt. Manches Werk entsteht in mehreren Stunden komplizierter Arbeit, andere sind erstaunlich schnell fertig. „So eine Kröte mache ich in drei Minuten, das geht fast von alleine“, sagt Isi, der sich als Perfektionist bezeichnet. Obwohl ihm die Technik Grenzen setzt, versucht er, so „realistisch“ wie möglich zu arbeiten.

„Wichtig ist mir, dass die Betrachter erkennen, was ich gemacht habe. Es reicht nicht, wenn ich weiß, dass es ein Löwe ist, andere sollen es auch erkennen“, sagt Isi, der aber weiß, dass sich die Leute manchmal ihr ganz eigenes Bild machen. So habe ihm ein Besucher einmal gesagt: „Die Schafe sind aber schön“, obwohl es sich eigentlich um Hunde handelte.

Eigene Ausstellung in der Kunsthalle

Inzwischen hat Ismet Apaydin 600 bis 700 Werke geschaffen und eine gewisse Berühmtheit erlangt. Nachdem mehrere Zeitungsartikel über die Kunsthallen-Aufsichtskraft, die ihre eigene Kunst macht, erschienen sind und auch Fernsehbeiträge ausgestrahlt wurden, sprechen viele Museumsbesucher Isi direkt an und fragen, ob er wieder ein neues Werk gemacht hat. Im Jahr 2011 richtete ihm die Kunsthalle in der Rotunde sogar eine eigene kleine Ausstellung aus, und bis vor einem Jahr hat er auch Kurse angeboten, in denen man seine spezielle Papiertechnik lernen konnte. Das kann man auch mithilfe eines Buches, das der Künstler 2014 im Frech Verlag unter dem Titel „Isigami. Faltkunst aus Mini-Papierstreifen“ veröffentlicht hat.

Nur käuflich sind Isis Isigami-Werke nicht. „Ich verschenke sie nur, auch wenn mir immer wieder Geld dafür angeboten wird“, sagt der Künstler, der sich seit etwa einem Jahr nur noch wenig mit Isigami beschäftigt. „Es muss von innen kommen“, sagt er, aber er habe den Kopf nicht mehr frei dafür, weil ihn die Entwicklungen in seiner türkischen Heimat und überhaupt in der Welt zu stark beschäftigen.

„Ich suche nach einer Möglichkeit, mit meiner Kunst noch etwas anderes auszudrücken, meine Haltung zu dem, was in der Welt vor sich geht. Aber noch bin ich nicht so weit“, sagt Isi nachdenklich. Aber ganz aufgegeben hat er Isigami auch jetzt nicht, wenn er zum Beispiel an der Garderobe sitzt und ein Kind vor ihm steht, faltet er schnell eines seiner Reptilien. Und schon nach zwei oder drei Minuten zeigt er dem strahlenden Kind, wie wunderbar eine Isigami-Kröte hüpfen kann.