Hamburg. Vor 40 Jahren entfachte die TV-Liebe zwischen Christian Quadflieg und der jungen Nastassja Kinski einen mittleren Skandal.
Am Ufer des Sees streift die schöne 17-jährige Sina Wolf die Träger ihres weißen Kleides über ihre Schultern, ihr Lehrer Helmut Fichte schmiegt seinen Kopf an den nackten Busen seiner Schülerin. Aus dem Gebüsch beobachtet Sinas Mitschüler und Verehrer Michael Harms hasserfüllt das Liebesspiel. Die 19-sekündige Szene aus der „Tatort“-Folge „Reifezeugnis“ löste am 27. März 1977 einen mittleren TV-Skandal aus.
Ein verheirateter Studienrat, der sich in seine Schülerin verguckt, ein Klassenkamerad, der seine große Liebe erpresst und von ihr schließlich erschlagen wird, eine erst 16-jährige Nastassja Kinski mit Lolita-Schmollmund als erotisierende Hauptdarstellerin – wohl keine andere der inzwischen mehr als 1000 „Tatort“-Folgen brannte sich so sehr in das kollektive Gedächtnis der Fernsehnation ein – auch dank einer TV-Dauerschleife. Allein das Erste sendete die 73. „Tatort“-Folge mit Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf, er starb 1991) bereits elfmal, im NDR lief in der Nacht zum Freitag die achte Wiederholung.
Konzentriert den Film nie wieder geschaut
Vier Jahrzehnte nach der „Reifezeugnis“-Premiere lugt die Frühlingssonne durch die bodentiefen Fenster des Hauses einer Nebenstraße in Sasel. Christian Quadflieg serviert Tee und Gebäck. Die Haarpracht ist inzwischen angegraut, seit Jahren trägt er einen Vollbart. Doch die sonore Stimme bleibt unverwechselbar, wer die Augen für ein paar Sekunden schließt, hört wieder Lehrer Fichte, wie er lässig auf der Tischkante sitzend seiner Klasse Kohlehydrate erklärt, angehimmelt nicht nur von der schönen Sina.
Dass am nächsten Abend wieder das „Reifezeugnis“ im Dritten laufen wird, erfährt Quadflieg vom Abendblatt-Reporter. Es interessiert ihn nicht wirklich. „Ganz konzentriert habe ich ihn mir nie wieder angeschaut“, sagt er. Ohnehin sehe er sich nur ungern im Fernsehen: „Ich denke bei vielen Szenen, was ich noch hätte besser machen können. Und dann schaue ich die 20. Wiederholung. Und es ist immer noch nicht besser.“
Wobei er auf „Reifezeugnis“ nach wie vor stolz ist. „Für mich ist der Film ein Beweis, dass ein guter Krimi nicht unbedingt Action und Blut braucht. Als ich die erste Seite des Drehbuchs las, wusste ich sofort, dass ich für diese Rolle zusagen würde. Es war eher ein Kammerspiel.“ Und die Fast-Nackt-Szene mit Nastassja, der Tochter des Exzentrikers Klaus Kinski? Quadflieg lacht: „Als ich neulich abends durch die Programme zappte, stieß ich in fast jedem Film auf ziemlich undelikate Sexszenen.“ Daran gemessen sei der blanke Busen seiner Filmpartnerin doch ziemlich harmlos gewesen: „Aber die erotische Wirkung lag wohl darin, dass wir nicht alles gezeigt haben und damit der Fantasie freien Lauf gelassen haben.“
Quadflieg tippt auf die Schwarz-Weiß-Fotos, die er für den Abendblatt-Besuch auf den Esstisch gelegt hat, optische Belege einer eindrucksvollen Schauspieler-Karriere. Quadflieg war Stammgast auf den großen Bühnen in Hamburg, in Wien, in München, in Berlin, in Salzburg, in Zürich. Dabei hatte ihn sein Vater, der große Schauspieler Will Quadflieg (1914–2003) immer gewarnt: „Jung, lass das lieber, der Beruf ist so anstrengend.“ Der Sohn ließ sich nicht abhalten, mit seinem Vater gewann er 1986 dann den „Deutschen Schallplattenpreis“ für die Einspielung der Werke von Thomas und Klaus Mann.
Wegweisender Tatort für Quadflieg
Als Quadflieg 1976 von den Theaterfestspielen im oberfränkischen Wunsiedel zu den Dreharbeiten fürs „Reifezeugnis“ in die Holsteinische Schweiz eilte, war sein Gesicht einigen Fernsehzuschauern bereits vertraut, besonders dank des dreiteiligen Fernsehspiels „Der Winter, der ein Sommer war“. Und doch war „Reifezeugnis“ auch für ihn eine Zäsur, genau wie für Regisseur Wolfgang Petersen, der einige Jahre später über den Klassiker „Das Boot“ eine Weltkarriere in Hollywood ansteuern sollte.
„Meine Arbeit hat sich nach diesem ,Tatort‘ immer mehr Richtung Fernsehen verlagert“, sagt Quadflieg. Produzenten buchten ihn vor allem für Krimi-Serien wie „Derrick“, „Der Alte“, „Siska“ oder „Die Männer von K 3“. Und doch verbinden ihn die meisten Zuschauer nach wie vor hauptsächlich mit der Figur des liebenswerten Dr. Karsten Mattiesen im „Landarzt“ im ZDF-Vorabendprogramm. „Und daran ist vor allem diese Dame schuld“, lacht Quadflieg und zeigt auf seine Frau Renate Reger, mit der er seit 1974 verheiratet ist. Denn Quadflieg selbst hatte Angst vor dem Serientäter-Dasein, vor der alleinigen Fixierung auf eine Rolle: „Meine Frau hat mich dann überredet, das Wagnis einzugehen.“
Ironie des Schicksals
Bereut hat es Quadflieg nie, die TV-Serie sei so gut produziert worden, dass man sie auch um 20.15 Uhr hätte senden können. Quadflieg führte teilweise selbst Regie, bis in Folge 42 seine Figur Dr. Mattiesen beim Versuch, ein Kind zu retten, tödlich verunglückte. Es war gewissermaßen ein Sterben auf eigenen Wunsch: „Das ZDF hatte mich bekniet weiterzumachen. Aber ich brauchte nach drei Jahren einfach etwas Neues, und das ZDF hat mir dann ja auch neue Aufgaben angeboten.“ So ganz hat er die Figur nie abstreifen können, aber immerhin frage ihn jetzt kein Spaziergänger mehr wie noch Anfang der 1990er, ob er ein gutes Mittel gegen Rheuma kenne, der Mutter ginge es so schlecht.
Es ist eine bittere Ironie des Schicksals, dass es dem gefeierten Landarzt gesundheitlich nicht wirklich gut geht. Ein Wirbelleiden plagt Quadflieg, vier Bandscheiben-Operationen hatten keinen Erfolg. Langes Stehen fällt ihm schwer, auch große Strecken zu Fuß sind für ihn inzwischen recht mühsam.
Im Alter, Quadflieg wird am 11. April 72, zahlt der Schauspieler wenn man so will auch den Preis für seine Leidenschaft. Absagen aus gesundheitlichen Gründen, dafür war einer wie er immer zu pflichtbewusst. Für seinen Auftritt bei der Abendblatt-Benefizveranstaltung „Märchen im Michel“ ließ er sich von seiner Frau nach einer Operation aus der Klinik abholen, nach dem Auftritt wieder zurückbringen. „Du hast dich nie geschont“, sagt Renate Reger.
Komplimente von Schülern machen ihn stolz
In den vergangenen Jahren hat sich Quadflieg mehr und mehr auf Lesungen konzentriert. Dass manche Blätter daraus die Geschichte eines alternden und traurigen Mimen konstruierten, der jetzt über die Provinzbühnen tingeln müsse, habe ihn mehr geschmerzt als jeder Bandscheibenvorfall. Denn zum einen liest Quadflieg nach wie vor auch vor großem Publikum, etwa jeden Herbst im Winterhuder Fährhaus.
Vor allem aber sieht er seine Auftritte als Mission, er will dem Volk der Dichter und Denker wieder seine großen Literaten nahebringen. 29 Programme hat er inzwischen ausgefeilt, allein der Textvortrag wäre ihm zu wenig. Quadflieg fahndet nach biografischen Details aus dem Leben seiner Helden, zitiert etwa aus den Briefwechseln Goethes mit seiner Mutter. In Schulen liest er ohne Gage. Und wenn sich wie jüngst eine Schülerin schriftlich bedankt, weil sie Heinrich Heine jetzt endlich verstehe, freut ihn das mehr als jede gute Fernsehkritik.
ARD hatte Pläne für eine Neuauflage
Vor zehn Jahren hätte es für Quadflieg fast ein großes „Reifezeugnis“-Comeback gegeben, die ARD hatte Pläne für eine Neuauflage des Klassikers; Nastassja Kinski war sehr interessiert. Quadflieg ist heute froh, dass daraus am Ende nichts wurde: „Wenn überhaupt, hätte man die Charaktere ganz anders besetzen müssen. Ich hätte doch drei Jahrzehnte später nicht mehr den jugendlichen Liebhaber spielen können.“ Lehrer Fichte als distinguierter älterer Herr, das wäre vielleicht gegangen. Angelnd am Ufer des Sees in der Holsteinischen Schweiz. Dem Tatort einer nie endenden Affäre.