Hamburg. Der venezolanische Star-Dirigent Gustavo Dudamel startete mit Anlaufschwierigkeiten in seinen Beethoven-Zyklus in der Elbphilharmonie

Im Bereich G, direkt oberhalb der Orchesterbühne, befinden sich 16 dekorative Kugellampen direkt über den Sitzreihen; in P, eine weitere Etage oberhalb, sind es 23 Stück. Das sind so die Dinge, die sich, von Block A aus ­gesehen, zum zeitvertreibenden Zählen anboten, während im Großen Saal der Elbphilharmonie die ersten zwei der neun Beethoven-Sinfonien vor allem passabel wiedergegeben wurden.

Viel mehr jedoch passierte nicht an diesem ersten von fünf Abenden, den man durchaus mit Spannung erwarten durfte, weil ja kein austauschbarer Wald-und-Wiesen-Maestro mit Pauken und Trompeten für dieses Prestige-Projekt angekündigt war, sondern: Gustavo! Dudamel! Publikumsliebling, scheinbarer Alleskönner, Tutti-Charmeur, Lockenmähne wie Simon Rattle und an guten Tagen mit ähnlich unwiderstehlichem Charisma ­gesegnet. Doch was am Sonntag in der ersten von fünf Konzert-Runden von der Bühne kam, immerhin zwei Ouvertüren und zwei Sinfonien lang, war über weite Strecken austauschbar, beliebig. Blass. Salzarm. Ziemlich konventionell, ziemlich brav, ziemlich unverbindlich. Sehr ziemlich, alles in allem. Großartige Musik in einem großartigen Saal, aber unter dem dort möglichen Niveau bleibend.

Maestro und Orchester, so war der vorherrschende Eindruck, standen ­gemeinsam vor der allzu kniffligen Frage: Was machen wir fünf Konzerte lang mit dieser visionären Musik, die schon ihre Zeitgenossen so drastisch verunsicherte und durchrüttelte, deren Einfallsreichtum spätere Komponisten so sehr einschüchterte? Was soll und kann sie uns zwei Jahrhunderte später über uns sagen, wie wollen wir einen eigenen, frischen Zugang finden? Spielen wir’s mal, dann sehen wir schon, war dafür leider eine grundfalsche Antwort. Bleibt zu hoffen, dass bei den nächsten vier Etappen-Abenden überzeugendere ­Argumente präsentiert werden.

Oft fragte man sich: War was? War’s das etwa schon?

Große Interpretations-Wunder darf man selbst von einem so stramm auf ­Linie trainierten Jugendorchester wie dem „Orquestra Sinfónica Simón Bolívar de ­Venezuela“ sicherlich nicht automatisch ­erwarten. Doch der eine oder andere grundsätzliche Aufhorch-Moment beim ersten, am Ende stürmisch gefeierten Auftritt des „El Sistema“-Orchesters wäre schon schön ­genug gewesen. Nicht zuletzt, weil die Erste und Zweite ja relativ handliche Leicht­gewichte sind, in denen Haydns freundliche Akkuratesse stellenweise noch ­Modell steht und der Titan das Herausheben der Welt aus ihren Angeln noch übt. Die größeren, viel radikaleren ­Heraus­forderungen kommen erst. Und es ist auch nicht so, dass es an Perspektiven auf Beethovens Sinfonien mangeln würde: historisch informiert, mit aufgerauter Oberfläche; als Wegbereiter der späteren Romantiker; verspielt tänzelnd in den schnelleren Sätzen; filigran durchbuchstabiert; al dente; fett besetzt und pompös auftrumpfend.

Dudamel allerdings leitete sein Orchester, als ob eine höhere, bremsende Macht ihm klemmende Stützräder an die Partituren geschraubt hätte. Wüsste man nicht, wie sehr ihm, als glorreichstem Ex-Zögling des rigiden „El Sistema“-Konzepts, ­gerade dieses Ensemble am Herzen liegt, möchte man ihm Desinteresse am Vollzug unterstellen. Dabei hätte ­gerade die Programmzusammenstellung des Auftakt-Abends gleich vier Steilvorlagen zur ­rasanten Überwältigung geboten, denn nicht nur die Erste und die Zweite, auch die wegen der Sinfonien-Unterlänge vorangesetzten Ouvertüren zu „Egmont“ und „Coriolan“ eröffnen den Vorhang mit ­getragenen Einleitungspassagen, die als Vorspiel dankbarer kaum sein könnten.

Doch keine dieser Chancen wurde raffiniert genug genutzt, das Herzblut, es blieb unvergossen. Das Tutti ­begann, und der Rest fand sich dann. Die „Egmont“-Ouvertüre, an sich eine dramatische Ladung Adrenalin fürs ­Gemüt, verpuffte eher wirkungsarm. Zu ruppig der Einstieg, zu wenig durchdacht die Fortsetzung. Beim „Coriolan“ schwankte der Eindruck zwischen übertrieben kantig und konturenarm. Und nach beiden fragte man sich: War was? War’s das etwa schon? Halten die das hier für eine Probe vor Publikum, und die Sause kommt erst noch? Dass die hohen Holzbläser aus unerklärbaren Gründen wie hinter einem Weichzeichner ­geparkt wirkten, obwohl gerade dieser Saal nun wirklich nicht fürs Versteckspielen konzipiert ist, machte die Sache mit dem Klang und der Überzeugungskraft auch nicht besser.

Konvention war Trumpf, in beiden Sinfonien, durchgängig zu hören mit dieser wackeren „Jugend musiziert“-Verbindlichkeit, die zu wenig ist, wenn man einen bleibenden Eindruck hinterlassen will. Schon die Einleitung der Ersten war kein Türöffner, keine verführerische Großtat, die mit einem aufwieglerischen „Was wäre, wenn ...?“ beginnt. Diese Musik, so berechenbar gespielt, traute sich selbst nicht genügend zu. Geheimnisarm vorantastend ging es weiter durch die Erste: der langsame Satz trödelte unentschlossen vor sich hin, das Menuett blieb unter seinen Temponotwendigkeiten und benahm sich zu gut, und auch das Finale war kein Schlussspurt mit Siegerlächeln, sondern eher ein weiterer Satz, den man unfallfrei hinter sich zu bringen hatte.

In der Zweiten wiederholte sich diese Methode – andere Noten, gleiche Indifferenz. Dabei sind schon Beethovens erste zwei Sinfonien Kampfansagen an den Rest der Welt und deren Spielregeln. Bekenntniswerke, die gerade ein derart junges Orchester nicht so altväterlich spielen sollte, als wäre es gedanklich in der Nähe der Selbstverrentung.

Der tosende Applaus war also auch ein Vertrauensvorschuss für die nächsten sieben Meisterwerke.