Kiel. Der deutsche Schriftsteller Feridun Zaimoglu spricht im Interview über Martin Luther, Erdogan und die Deutschtürken.
Feridun Zaimoglu lebt seit 20 Jahren in derselben Wohnung in Kiel. Der 52-Jährige hat einen Gartenzwerg-Spleen: Die Figuren stehen und hängen überall. Er selbst sieht sie gar nicht mehr, zu gewohnt ist der Anblick. Dabei ist das doch ein guter Witz: Ausgerechnet der noch in Bolu geborene Sohn türkischer Eltern ist ein Fan deutscher Spießigkeit! Zaimoglu („Kanak Sprak“, „Leyla“) ist ein profilierter und preisgekrönter deutscher Schriftsteller, dessen neuer Roman „Evangelio“ von der Nationalikone Martin Luther handelt. Und er ist ein scharfer Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan – und jener Deutschtürken, die hierzulande dessen Parteigänger sind.
Kommen wir erst mal zur Gegenwart: der deutsch-türkischen Krise. Was sagen Sie eigentlich zur Causa Erdogan?
Feridun Zaimoglu: Für mich persönlich: Man kann nicht zwei Herren dienen, und die Frage der Loyalität stellt sich auch fernab des politischen Standpunkts. Die letzten Tage waren geprägt durch widerwärtige Angriffe aus der Türkei, vom Gebell der Demagogen. Es wird dort von eigenen Problemen abgelenkt, anstatt vor der eigenen Haustür zu kehren. Ich bin erschüttert von der Vulgarität der Angriffe. Es zeigt sich die hässliche Fratze der Macht. Wer zuletzt immer von einer „kommoden Demokratur“ geredet hat, sieht hoffentlich jetzt, wo das hinführt. Mit dieser Türkei gibt es keinerlei Verständigung. Es sind mehr als 100 Journalisten eingesperrt und jetzt ja auch der „Welt“-Reporter Deniz Yücel – da fehlen einem wirklich die Worte. Der Größenwahn Erdogans, dieser neue Osmanismus, ist gefährlich.
Sind Sie über den Status des Sich-Sorgens hinaus, weil aus Ihrer Sicht die Türkei derzeit eh nicht vor sich selbst zu retten ist, oder glauben Sie an die Selbstheilungskräfte des Landes?
Der Herrscher in der Türkei kommt nicht einfach irgendwoher, er wurde von den Leuten gewählt. Viele Menschen dort ziehen das Illusionäre dem Denken vor. Die Türkei hat nicht erst jetzt viele Probleme: eine nicht überwundene Tradition der Gewalt, Minderwertigkeitskomplexe, ein immer noch nachwirkender postimperialer Schock und der Übergang von einer Regierung zu einem Regime. Dieses Regime hat es etwa geschafft, sich in wenigen Jahren mit allen Nachbarstaaten anzulegen.
Die Ironie ist mit Händen zu greifen: Das demokratische Deutschland soll die Zumutung aushalten, dass Demokratieverächter aus der Türkei hierzulande um Stimmen werben, während es dort quasi keine Meinungs- und Pressefreiheit mehr gibt.
Was Erdogan derzeit in Deutschland treibt, ist Propaganda pur für seine Präsidialdiktatur. Es wäre Heuchelei von uns, wenn wir gegen die AfD wettern und bei Erdogan sagen: Das legt sich wieder. Dass Angela Merkel Erdogan wegen seiner Nazi-Anwürfe nun klar in die Schranken gewiesen hat, ist ein erster Schritt. Es muss Schluss sein jetzt, bis hierhin und nicht weiter! Das Manöver, Deutschland Demokratiedefizite zu unterstellen, während in der Türkei eine Diktatur errichtet wird, ist schlicht und ergreifend absurd.
Warum gibt es unter den Deutschtürken dennoch so viele Erdogan-Fans?
Es mag besserwisserisch klingen, aber die Sichtweise der Multikulturalisten in diesem Land zeugte immer schon von Verblendung. Friedliche Koexistenz der vielen Speisekarten in den Vierteln – die gab es so nie. Dass Deutschtürken heute so begeistert Fähnchen schwenken und augenscheinlich Erdogan hinterherlaufen, der mit ihrem Leben in Deutschland doch eigentlich gar nichts zu tun hat, kommt für mich nicht überraschend. Es ist ja immer mal wieder in Mode, Deutschland für alles verantwortlich zu machen, aber die Desintegration geht oft von der türkischen Minderheit selbst aus. Und auch, wenn das jetzt harte Worte sind: An der Erdogan-Begeisterung sieht man, wie blind und taub viele hier durchs Leben taumeln wollen.
Sehen Sie ein langes Zeitalter des gegenseitigen Unverständnisses zwischen Deutschen und Deutschtürken aufziehen?
In mancherlei Hinsicht hätte der Blick der Deutschen die ganze Zeit über schon realistischer sein müssen. Es war gewissermaßen ein schöner Blick, den die Multikulturalisten immer auf das deutsch-türkische Verhältnis geworfen haben. Derzeit wird es aber hässlich, die Krise ist da. Das beschäftigt mich. Was waren wir verdutzt, als Erdogan 2010 sagte, Assimilation sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im letzten Jahr erst fragten wir uns, wohin Merkels Flüchtlings-Kuhhandel mit Erdogan führt. Und jetzt sehen wir die Denkfaulheit der Fähnchenschwenker. Dieser Hang zu Lug und Trug, dieses Anti-Aufklärerische, dieses Sich-die-Welt-schönmalen! Wenn man sich die ganze Situation als jemand betrachtet, der sich ein hohes Gut wie Freiheit nicht nehmen lassen will, dann sieht man bei vielen Türken den Willen zur Selbstbetäubung. Man sieht auch Frauen- und Minderheitenverachtung.
Wie groß schätzen Sie die Chancen ein, dass die AfD dauerhaft ein machtvoller Faktor in Deutschland wird?
Wie etwa in Frankreich mit dem Front National wird es bei uns nie sein. Aber leider muss man die bisherigen Erfolge der AfD auch als Teil des Volkswillens sehen, so wie die Erfolge Erdogans als türkischen Volkswillen. Dabei ist es schwer aushaltbar, wie bei der AfD Menschen mit untauglichen Deutungsversuchen die Verhältnisse in diesem Land betreffend permanent zündeln.
Haben Künstler und Intellektuelle in solch angespannten Situationen wie der jetzigen eine besondere Verantwortung als „Gewissen der Nation“?
Nein. Die Zeit der Intellektuellen ist vorbei, und das ist gut so. Kein Stubengelehrter sollte sich heute einbilden, er könne die Verhältnisse allein deuten und sich moralisch aufspielen. Trotzdem sollte es eine Maxime sein, auch einmal nicht zu schweigen. Ich habe, was das angeht, allerdings auch gut reden. Wenn ich da an Journalisten etwa in der Türkei denke; die können nicht schreiben, was sie denken.
Welche Rolle kann in einer Welt der Komplexitätsreduktion, in der zum Beispiel vom mächtigsten Mann der Welt über Twitter Politik gemacht wird, eine auf Komplexes angelegte Sache wie Literatur noch spielen?
Wissen Sie was? Ich finde die Machtlosigkeit der Literatur gut! Literatur kann nur gelingen, wenn sie schwach ist. Literatur darf nicht brüllen, sie muss immer abseits der Macht stehen. Wer wissen will, was die Zukunft bringt, schlage das Lukas-Evangelium auf und lese: „Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ Literatur hat etwas mit Schwärmen und Sinnlosigkeit zu tun. Die Menschen brauchen Brot und Salz. Wenn ihnen kalt wird, verbrennen sie die Bücher. Aber wenn ich auf dem Sofa sitze und Löcher in die Luft starre, während es draußen dunkel wird, denke ich: jetzt mal nicht schwermütig werden.
Sie leben seit 49 Jahren hier. Loten Sie noch aus, was an Ihnen nicht so deutsch ist?
Nein. Mein Alltag, das, womit ich mich beschäftige: das ist alles deutsch gewissermaßen. Ich bin, so formuliere ich das manchmal, deutsch geworden, um zur guten Laune und zur Lust zu gelangen. Meine Freunde sagen, für einen Deutschen trüge ich an meinen Händen aber viel zu viele Ringe (lacht). Wirklich türkisch ist das auch nicht. Silberne Ringe sind eher Hippie-Kram. Und man sagt auch, schakalhaften Männern sei zu eigen, dass sie viel Schmuck tragen (lacht wieder). Was geblieben ist, ist mein Krücken-Türkisch, das ich benutze, wenn ich mit meinen Eltern in der Türkei telefoniere. Mein Vater wiehert immer vor Lachen. Dabei schreibe ich mir vorher manchmal Wörter aus dem Wörterbuch heraus. Mit meiner Schwester spreche ich nur deutsch. Ich rufe übrigens jeden Tag in der Türkei an. Meine Mutter ist Diabetikerin; die sollen wissen, dass ich mich kümmere.
Zu Ihrem neuen Buch „Evangelio“. Sie schreiben nun über die deutsche Nationalikone Luther. Ist das eine Pointe?
Ich muss selber grinsen. Aber ich bin kein Grabräuber. Vor dem Glauben zerschmilzt jede Identität (lacht). Ich habe dieses, wie alle meine Bücher, geschrieben, um Teilaspekte der deutschen Wirklichkeit zu zeigen. Ich bin ja kein exterritorialer Schreiber. Ich bleibe mit meinem Werk in Deutschland. Mein Zugang ist immer ein biografischer, es gibt einen emotionalen Bezug. Ich schreibe über mein Land und in meiner Sprache. Hier ist man so frei, das tun zu können.
Sie schreiben quasi original Lutherisch und derbe Sätze wie „Mein Arsch grimmt bös, wenn ich mich dreh und wend“. Wie haben Sie die Stimme für diesen Roman gefunden, eigentlich sind es ja sogar zwei?
Diese Wucht und Pracht, dieser heftige, bisweilen deftige Ausdruck ist mir so vertraut. Ich mag die Derbheit, diese volkstümliche Direktheit. Im Deutschen gibt es außerdem die wunderbare Tradition der gleichnishaften, bilderreichen Sprache. Wir haben es in „Evangelio“ mit einem Sprachgewaltigen zu tun, mit Luther, den man beinah verharmlosend den „Reformator“ nennt. Außerdem gibt es noch einen Ich-Erzähler, den katholischen Landsknecht Burkhard. Letzterer ist zwar fiktiv, aber sehr nah an der Wirklichkeit gewebt. Ich bin an die Schauplätze gereist und habe die Schriften Luthers studiert. Ich wollte aber auch das Mittelalter abbilden.
Woher kommt Ihr Interesse an der christlichen Religion, mit der Sie sich schon länger beschäftigen?
Ich habe mit zehn Jahren zum ersten Mal die Luther-Bibel gelesen, auch wenn die Bibliothekarin versuchte, mich davon abzuhalten. Ich habe fast nichts verstanden, aber ich war begeistert von dem Wortrausch. Ein Leben ohne Bücher ist für mich schon damals nicht möglich gewesen. Ich befasse mich seit ungefähr 35 Jahren mit den Religionen und dem Glauben. Vor allem das Christentum hat es mir angetan.
Wie haben diese Leseerfahrungen Ihr Verhältnis zum Glauben beeinflusst?
Um mit Luther zu sprechen, den ich für einen nicht widerspruchsfreien, aber großen Deutschen halte: Es gibt Gottes Majestät, der Himmel ist nicht leer. Ich bin sehr skeptisch, was die modernen Menschen in ihrer Ruhmsucht und ihrer Dummheit betrifft. Sie verlächerlichen die, die vor ihnen gelebt haben. Ich habe schon als Kind einen glühenden Gottesglauben gehabt, aber ich habe etwas gegen Religion (lacht).
Die SPD hat Sie vor einigen Wochen in die Bundesversammlung geschickt, um den Bundespräsidenten zu wählen. Wie staatstragend haben Sie sich dabei gefühlt?
Gar nicht. Es hat mich aber gefreut, denn ich bin ein norddeutscher Lokalpatriot: Ich durfte in der Schleswig-Holstein-Reihe sitzen. Das war ein schönes Gefühl. Ich habe mir auch kein Kostüm angelegt. Ich bin da angezogen wie immer rein, habe Steinmeier gewählt – er war der Beste von den Kandidaten – und bin wieder raus. Ich bin halt ein Sozi, was soll ich machen? Allgemein aber gilt: Ich bin immer bei denen, die das Siegen nicht gelernt haben.
Feridun Zaimoglu liest Di 14.3., 19.30 Uhr,
im Literaturhaus (Bus 6), Schwanenwik 38, Tickets 10,-,ermäßigt 8 Euro.