Hamburg. Das Festival „Lux aeterna“ wurde mit Kompositionen von Arvo Pärt eröffnet – ein weitgehend leiser und besinnlicher Abend

Das Wochenende befand sich noch am Horizont, der Alltag zwackte vielleicht gerade, und gefrierfachkalte Windböen wehten auch noch an diesem Donnerstagabend durch die Bautenklötze-Schluchten der HafenCity. Dann aber, endlich, betrat man, womöglich noch mühselig und problembeladen, den Großen Saal der Elbphilharmonie, in dem der sichtbare Anteil der Klais-Orgel, honiggelb illuminiert, durch die Riesen-Waben der „Weißen Haut“ leuchtete, als wäre es keine meterhoche Feinstmechanik, sondern eine futuristische Marienerscheinung. Auf der Bühne stand der unglaublich homogen singende Kammer-Chor des Lettischen Rundfunks im Dämmerlicht und sang als Erstes Arvo Pärts „Solfeggio“, sein C-Dur-Glasperlenspiel mit den mittelalterlichen Solmisationssilben.

Die wenigen, glasklar im Raum stehenden Stimmen schichteten sich, nach Erlösung oder wenigstens harmonieregelgerechter Auflösung suchend, übereinander; Noten, die wie keusche Pilger demütig nach Antworten auf die großen Sinnsucher-Fragen streben. Das Stück ist erst knapp über ein halbes Jahrhundert alt, ein eher kleines, bescheidenes Frühwerk des mittlerweile 81-Jährigen, wirkte aber dennoch zeitentrückt, alterslos und unfassbar, wie eine Meditationsübung. Und so mancher im Saal erinnerte sich daran, dass er irgendwo, in einer entlegenen Ecke des überdrehten Selbst, auch noch einen Ruhepuls haben könnte.

Drei Wochen dauert das Festival „Lux aeterna“

Für Hektiker, die auf lautes, frontales Bedröhntwerden stehen, wäre das mit diesem Erlebnis begonnene Festival „Lux aeterna“ jedenfalls nichts. Wer in diesem Riesensaal bis zum Anschlag in übermächtigen Schallwellen baden möchte, war hier und an diesem Abend fundmental verkehrt. Bei „Lux aeterna“ wird musikalisch konsequent bis sehr nah an den Leerlauf heruntergeschaltet, lieber tief nach innen gehört und – ganz bewusst, viele Stücke weit – achtsam innegehalten.

Man könnte diese Inszenierung von Überbesinnlichkeit relativ schnell als scheinheilige, in Esoterik-Marinade eingelegte Wadenwickel für überlastete und gottferne Großstädter im Eilmeldungs-Gewitter ihrer Smartphones abtun. Doch dem faszinierenden Anders-sein dieser Haltung und diesen Per­spektiven kann man sich nicht so einfach entziehen – und sollte sich ihnen in den nächsten drei Festivalwochen ruhig hin und wieder aussetzen, schon der emotionalen Balance wegen.

Für den ersten Einstieg in den Ausstieg aus dem Alltag hätten die Programmplaner jedenfalls kaum einen passenderen Komponisten wählen können als den mönchisch wirkenden Esten Pärt, dessen karge, verschlossene Schlichtheit bestens zum spirituellen Leitmotiv von „Lux aeterna“ passt, bei dem es um „Musik für die Seele“ gehen soll (als ob Musik an sich je für andere menschliche Reflexzonen komponiert würde). Obwohl das noch sehr neue Hamburger Konzerthaus gern und mit ehrfürchtiger Tonfärbung als „Klangkathedrale“ bezeichnet wird, trifft diese Beschreibung eher auf die Ausmaße des Raums zu. Denn die Akustik verhüllten die Kompositionen von Pärt ja eindeutig nicht in wattige Echowolken, als wäre man tatsächlich in einem Kircheninneren mit entsprechender Echokammer-Architektur, sondern enthüllten sie, buchstäblich, mit geradezu agnostischer Eindeutigkeit. Das nahm ihr einiges ihrer Erhabenheit, ließ aber die Strukturen klarer hervortreten.

„Fratres“ – für Pärt tatsächlich so etwas Weltliches wie ein „größter Hit“ – wirkte in diesem Raum so unmittelbar melancholisch wie der Anblick von Atemwolken im vereisten Winterwald, denn die wenigen Musiker der ziemlich kleinen, aber sehr feinen Sinfonietta Riga skizzierten die wenigen mürbe glühenden Töne ja nur, um ja nichts zu zerbrechen. Niemals wurde nachgedrückt, nie draufgehalten. Das Schlagwerk pochte von hinten eindringlich, aber nur ganz sanft gegen die Schläfen, als Mahnung und Erinnerung an das verschwenderische Vergehenlassen der Lebenszeit.

Auch Pärts überreligiös gedachte Vertonungen von Bibeltextstellen, im „Salve Regina“ von den hellen Tönen der Celesta umzirpt, sangen die Lettinnen und Letten unter der beeindruckend unbeeindruckenden Leitung von Sigvards Klava wie auf Zehenspitzen. Geradezu dramatischer Höhepunkt des zweiten Teils war „Adam’s Lament“, denn dort arbeitete Pärt zur Abwechslung mit klaren Kontrasten, zwischen den Chorsätzen und der Instrumentalbegleitung knirschte und rieb es sich, als musikgewordenes Dokument der Leidensgeschichte Adams nach seiner Vertreibung aus dem Paradies.

Der ohnehin nicht allzu laute Abend, der immer wieder Momente großartiger Stille hatte und mit begeistertem Applaus ausklang, endete am Rande der delikat vorgeführten Unhörbarkeit. Mit Pärts „Estnischem Wiegenlied“, in dem der Frauenchor klitzekleine und tatsächlich unwidersprochen fröhliche Melodien trällerte, während die Streicher die Begleitakkorde zupften, so atemraubend leise, dass man sie schon in Block E fast nur noch sehen, aber nahezu nicht mehr hören konnte. Allerliebst, wirklich allerliebst.

Infos: www.lux-aeterna-hamburg.de