Hamburg. Ingrid Lausunds „Trilliarden: Die Angst vor dem Verlorengehen“ erntete tosenden Applaus. Das Stück hat eine Achillesferse.
Szenenapplaus. Allerdings noch bevor der erste Schauspieler auf der Bühne auftaucht, das muss man als Theater erstmal hinbekommen. Es ist aber auch ein atemberaubendes Einstiegsbild, das Ausstatterin Beatrix von Pilgrim da für die Uraufführung von Ingrid Lausunds „Trilliarden: Die Angst vor dem Verlorengehen“ am Schauspielhaus geschaffen hat: ein Gazevorhang, der mit Verlöschen des Saallichts fällt, gleichzeitig nach hinten, ins Dunkle gezogen wird und so das Publikum quasi ins Stück hineinreißt. Respekt.
In der Folge öffnet sich ein vernebelter Bühnenraum, auf dem bis auf die Unterwäsche nackte Menschen im Kreis tigern, verwirrt, orientierungslos, derangiert. Ein Zwischenreich ist das, ein wenig Sartre, ein wenig Beckett, auch ein wenig erste Probe, bei der die Schauspieler mit ihren Rollen warm werden sollen: „Ich sehe aus wie ein Frührentner aus Kleinknödelsheim“ mäkelt der eine (Bjarne Mädel), „Ich bin nicht 'Der mit dem Ayurveda-Tee'!“, motzt ein anderer (Michael Wittenborn), „Ich will nicht nur die Glamourtussi sein, die nicht mehr im Kopf hat als ihren Busen zu kaschieren“, betont eine dritte (Angelika Richter), und tatsächlich scheinen höhere Mächte ein Einsehen zu haben und nehmen ihr die übertriebene Perlenkette wieder ab. Jedenfalls lässt Gott beziehungsweise die Regie mit sich reden, aber Vorsicht: Die höhere Macht hat einen sarkastischen Humor.
Dem Tod ein Schnippchen schlagen
Am Ende hilft aber alles Verhandeln nichts, am Ende muss gestorben werden, also sollte man zeitnah einen Umgang mit dem Tod finden. Der Pedant (Michael Weber) etwa stürzt sich in die vermeintliche Sicherheit des Lebenspraktischen, der Narzisst (hinreißend dumpfbackig: Bastian Reiber) versucht, dem Tod durch Körperoptimierung ein Schnippchen zu schlagen, und die Depressive (Karoline Bär) hat ohnehin jeden Winkel ihres Alltags mit Gedanken ans Sterben gefüllt. Ja, das sind Abziehbilder, aber erstens schaffen es die durchgängig erstklassigen Schauspieler, auch der ärgsten Schießbudenfigur Leben einzuhauchen. Und zweitens ist Lausunds Text stark, weil er auch noch im billigen Kalenderspruch todesphilosophische Tiefe erkennen lässt.
Ingrid Lausund wurde von Tom Stromberg 2000 aus der süddeutschen Provinz ans Schauspielhaus geholt, wo sich die damals 35-Jährige zur Komödienspezialistin entwickelte, mit Stücken wie „Hysterikon“, „Bandscheibenvorfall“ und „Der Weg zum Glück“ (das durch die andauernde Kreisbewegung auf der Bühne formal entfernt mit „Trilliarden“ verwandt ist). Nach dem Ende von Strombergs Intendanz 2005 verschwand Lausund nicht in der Versenkung, spätere Stücke wurden allerdings nicht mehr an A-Klasse-Bühnen aufgeführt. Gleichzeitig orientierte sich die Dramatikerin immer mehr in Richtung Fernsehen und verantwortete als Mizzi Meyer unter anderem die Drehbücher zur NDR-Serie „Der Tatortreiniger“ – auch das ein Humorkleinod, bei dem das Gelächter ganz nahe beim Schrecken liegt und der Witz sich hinter dem Tod versteckt.
Klug, unsicher, tastend
Diese Fernsehnähe spürt man am Text von „Trilliarden“, am scharfen Sinn für Wortwitz. Beispiel: Ein Mann verstrickt sich in tiefe Traurigkeit und sucht Halt im Glauben. Aber die Lebensfreude, die sich bei einem Klosteraufenthalt in den Bergen einstellt, entpuppt sich als trügerisch. Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung stellt man fest, dass eine Fehlfunktion der Schilddrüse die Depression ausgelöst habe: „Ich verstand, dass mir wohl nicht Gott gefehlt hatte, sondern Jod.“ Solch ein Satz muss einem erst einmal einfallen. Und wenn ihn auch noch Bjarne Mädel mit trauriger Indifferenz spricht, dann kann eigentlich nichts schiefgehen.
Jedenfalls schnurrt das Stück angenehm im Kreis, die Mutter (Richter) versucht, ihrem imaginären Kind das Christentum nahezubringen und scheitert krachend am Konzept der Erbsünde, der Besserwisser (Weber) bringt atheistische Ratio gegen schwärmerischen Glauben in Stellung und wirkt in seiner „Will man sein ganzes Leben ein Kind Gottes bleiben oder entscheidet man sich irgendwann, ein erwachsener Mensch zu werden“-Rigorosität auch nicht sympathischer als ein frömmelnder Taliban. Und dann betritt Juliane Koren die Bühne und hebt zu einem langen Monolog an. Es geht um die Seele, um das Leben nach dem Tod, die Hölle, alles immer in Anführungszeichen. Koren referiert das Gesehene, stellt die beschriebenen Positionen in Frage und hinterfragt daraufhin das Infragestellen, klug, unsicher, tastend. Eine Passage, deren vielschichtige Qualität auf die Achillesferse des Abends verweist: Wirklich seriös können wir nichts über den Tod sagen, wir wissen schlicht nichts. Das ist ehrlich, aber es ist auch müßig.
Manche aber scheinen doch etwas zu wissen: Im letzten Bild brüllen sich die Figuren gegenseitig an, „Ich habe recht!“, „Nein, ich!“ Bis Wittenborn an die Rampe tritt und feststellt, dass die Darstellung von Hass und Glaubenskrieg keinen schönen Schluss ergeben würde. Stattdessen formuliert er seine eigene Schöpfungsgeschichte: „Im Anfang war die Güte. Außerdem war da Lachen, Leichtigkeit und ein großes, kühles Glas Bier.“ Tosender Schlussapplaus.
Wieder am 10., 15., 19. 2., Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39