Hamburg. Die Symphoniker Hamburg spielten im Großen Saal Beethovens „Missa solemnis“
Beethovens „Missa solemnis“ gilt als eines der größten Werke der gesamten Musikgeschichte. Der Komponist selbst hätte dieser Einschätzung wahrscheinlich zugestimmt, jedenfalls hält er auf dem berühmten Porträt, das ihn als wildromantischen Grübler zeigt, nicht zufällig die Partitur genau dieses Werks in den Händen.
Jeffrey Tate hat also ins alleroberste Repertoirefach gegriffen, als er für das Debütkonzert der Symphoniker Hamburg in der Elbphilharmonie die „Missa“ auswählte. Verlangt sie doch schon wegen ihrer schieren Ausdehnung von knapp eineinhalb Stunden untrüglichen Überblick, ganz zu schweigen von den sängerischen, spieltechnischen und konditionellen Anforderungen an die Mitwirkenden.
Und das sind einige. Zum Orchester mit dem gar nicht so riesig besetzten Streicherapparat gesellten sich auf der dann doch endlichen Bühne des Großen Saals der geschätzt 150-köpfige Philharmonia Chorus London und vier Gesangssolisten.
Die Akustik stellte sich von Block A aus so dar, wie das Herr Toyota sich gedacht haben muss: durchhörbar, warm und so organisch, dass man sich über sie schlicht nicht den Kopf zerbrechen musste. Eine Akustik soll ihre Wirkung im Konzertalltag schließlich entfalten, ohne dass das den Hörenden bewusst wird: als Wohlgefühl.
Chapeau zunächst mal, wie entschlossen sich die Symphoniker am neuen Ort präsentierten. Der Streicherklang blühte, die Solobläser klangen farbig. Dass der Saal Materialgeräusche und Ungenauigkeiten in gewohnter Weise mitlieferte, geschenkt, sie störten nicht weiter.
Das Problem war eher das Stück selbst. Die „Missa“ erhebt sich vor einem Musiker ähnlich unerreichbar wie ein Himalaja-Gipfel vor dem Bergsteiger. Tate wählte zwar Tempi und Temporelationen, die auch auf der Langstecke überzeugten. Was aber oft fehlte, war eine Auffächerung all der Klänge, Emotionen, Gedanken. Die Lautstärke blieb selten unterhalb eines gesunden Mezzoforte. Schade um all die Piano- und Pianissimo-Nuancen, die den Zuhörer doch erst fesseln und ihn neugierig machen auf das Geheimnis, das der Komponist quasi hinter vorgehaltener Hand mitteilen möchte.
Schade auch um die Kontraste, die die Bandbreite an Empfindungen erst fühlbar machen. Beethoven hat sein opus summum nicht im traditionellen Sinne komponiert, er ist ihm förmlich anheimgefallen. Drei Jahre länger als geplant brauchte er, um es seiner Taubheit abzuringen. In welche Abgründe der Komponist während des qualvollen Schaffensprozesses geblickt haben muss, zeigen all die jähen Szenenwechsel und hochkomplexen sinfonischen oder Chorpassagen. Wie sich einem Wanderer an jeder Wegbiegung neue Ausblicke auftun, so entwickelt sich die Musik weiter und immer noch weiter und schert sich dabei herzlich wenig um Fragen der Singbarkeit, der Balance oder um die Kräfte der Mitwirkenden. So kennen wir unseren Beethoven.
Tate überließ den Klangfluss oft allzu sehr sich selbst
Hier ist der Dirigent gefordert, die Klanghierarchien herzustellen: Welche Stimme soll wirklich hervortreten, wer hat wo die Führung, wie sorgt man in dem dichten Gewebe für Transparenz? Tate jedoch überließ den entfesselten Klangfluss allzu sehr sich selbst. Das Ergebnis war oft ein einheitliches Forte oder Fortissimo, das den Hörer rasch ermüdete. Es fehlte an musikalischer Gestalt, es fehlte an Dringlichkeit, auch an theologischer, es fehlte das Dramatische.
Mitunter geriet das Ganze auch leicht ins Schwimmen. Insgesamt aber blieb vor allem der Eindruck haften, dass die Beteiligten zugunsten der Stabilität jedes Risiko mieden. Die „Missa“ ist ein Mythos, zweifellos, aber zu viel Respekt ist der Kunst noch stets abträglich gewesen. Der Konzertmeister Adrian Iliescu lotste nicht nur die Streicher sicher durch die vielen Fugati und Fugen, er spielte auch das gefürchtete Violinsolo souverän und mit arg gleichbleibend süffigem Ton.
Leider war der Philharmonia Chorus Tate keine große Hilfe. Schon der Text war kaum zu verstehen, und die Frauenstimmen hatte hörbar Mühe mit den Spitzentönen.
Und die eigentlich hervorragenden Solisten präsentierten sich im Quartett arg uneinheitlich. Die Sopranistin Camilla Nylund sang häufig zu tief, der Tenor Klaus Florian Vogt war wie stets exzellent zu verstehen, überdeckte aber Sarah Connollys exquisiten Mezzosopran und häufig auch den Bass Luca Pisaroni.
Die „Missa solemnis“ kann man womöglich nicht vollends bezwingen. Aber man kann es versuchen. Und diesen Versuch haben die Symphoniker auf die respektabelste Weise unternommen.