Hamburg. „Die Terranauten“ erzählt die halb wahre, halb erfundene Geschichte eines sozial-ökologischen Experiments. Autor liest in Fabrik.
Schulkinder drücken sich an den Scheiben die Nasen platt, Senioren fotografieren, Reisegruppen werden um den futuristischen Komplex mit dem Namen „Ecosphere 2“ geführt. Das Gebäude mit seiner Kuppel und einer Ausdehnung von 1,3 Hektar ist ein Versuchsgelände unter Glas. In diesem Megaterrarium gibt es Savanne und Korallenriff, einen künstlichen Ozean, Regenwald, Felder und Ställe und acht Bewohner. Die „Terranauten“ sind Wissenschaftler und leben Anfang der 90er-Jahre in einem sich selbst erhaltenen Ökosystem, das hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen ist.
Sie sollen beweisen, dass außerhalb der Erde, E1 genannt, Leben möglich ist und diese Ecosphere, kurz E2, auf anderen Planeten errichtet werden kann. Unter dem Titel „Biosphäre“ hat es dieses Experiment in der Sonora-Wüste von Arizona zwischen 1991 und 1994 tatsächlich gegeben. Der amerikanische T.C. Boyle erzählt in seinem Roman „Die Terranauten“ von diesem Experiment bzw. er erzählt die Geschichte des Experiments weiter. Der zweite „Einschluss“ scheiterte 1994 bereits nach sechs Monaten, Boyle beobachtet seine fiktive Crew aber zwei Jahre lang.
Misslungenenes Gruppenprojekt
Dieses wissenschaftliche Experiment, das Millionen von Dollars verschlingt, wird bei Boyle ein akademisches Big Brother mit permanentem Medienrummel – und Beispiel eines misslungenen Gruppenprojekts. Trotz zweijährigem Vorbereitungstraining scheitern diese vier Frauen und vier Männer nicht nur an auftretenden Extremsituationen wie dem sinkenden Sauerstoffgehalt der Luft und knapper werdenden Lebensmitteln, sondern nach dem Abklingen der ersten Euphorie am täglichen Miteinander. Liebe, Sex und Eifersucht führen zu einer weiteren Erosion der ohnehin instabilen Gruppe, in der eigentlich jeder auf den anderen angewiesen ist.
Boyle erzählt die Geschichte der Mission aus der Perspektive von drei Mitgliedern von „Ecosphere 2“: Dawn Chapman, attraktive Nutztierwärterin und zuständig für das Melken der Ziegen und die Schweinemast, und Ramsay Roothoorp, Frauenheld und in sich selbst verliebter Gruppenkommunikator, leben innerhalb dieser künstlichen Welt, Linda Ryu dagegen außerhalb in E1. Sie gehörte zum Auswahlteam, doch hat sie den Sprung unter die letzten acht nicht geschafft.
Sie ist Dawns beste Freundin und aussichtsreiche Kandidatin für „Mission 3“. Die etwas dickliche Halbkoreanerin ist ein Musterbeispiel für Neid, fehlendes Selbstbewusstsein und Intriganz. Sie will es unbedingt ins Rampenlicht als Terranautin schaffen und übernimmt Spitzeldienste für die „Heilige Dreifaltigkeit“.
Die besteht aus dem Visionär Jeremiah Reed, genannt „GV“ oder „Gottvater“, seine rechte Hand Judy Forester, genannt Judas, und ihr Assistent Dennis Roper, das Jesulein. Schon diese Namen machen deutlich, dass es mit dem gegenseitigen Respekt zwischen Terranauten und Leitungsteam nicht weit her ist. Jede Bewegung, jede Äußerung wird kontrolliert wie in einem totalitären Staat, ein Privatleben ist fast ausgeschlossen. GV sorgt dafür, dass „Ecosphere“ hohe mediale Aufmerksamkeit bekommt, denn diese künstliche Biosphäre ist auch ein Geschäft.
Genaue Beschreibungen der Figuren
Auftauchende Probleme werden verschwiegen oder einfach verdreht. Als Dawn einräumen muss, dass sie von Ramsay schwanger ist, bedeutet das eigentlich das vorzeitige Ende von „Mission 2“, denn kann man unter der Glaskuppel ein Kind gebären? Alle drängen Dawn zur Abtreibung, doch sie will das Kind bekommen. GV macht aus dem Dilemma medial die erfolgreiche Fortpflanzung eines Homo sapiens in E2 und drängt Dawn und Ramsay zur Heirat.
Obwohl „Die Terranauten“ vor mehr als zwei Jahrzehnten spielt, als es das Internet praktisch noch nicht gab, funktioniert der Medienrummel mit all seinen Übertreibungen und „Fake News“ auch schon damals. Boyles Roman ist auch eine Satire auf diesen Medien- und Wissenschafts-Hype. Zum Lesevergnügen wird sein aktuelles Werk durch die genauen Beschreibungen seiner Figuren. Er lotet sie mit all ihren Unzulänglichkeiten und ihrem Egozentrismus aus, mit ihrer Gier nach Sex und Alkohol, was wiederum zu absurden Situationen führt. Auf die Idee, mit einer Handvoll M&M-Bonbons eine Frau verführen zu wollen, würde man im wirklichen Leben wohl nicht kommen.
Doch in E2, wo jede Kalorie zählt und Zucker nur in Form von Obst vorhanden ist, eignen sich sogar Schokolinsen als Aphrodisiakum.
T.C. Boyle liest am 21. Februar in der Fabrik (Beginn 19.30 Uhr).
Die Lesung ist ausverkauft.