Hamburg. Die Kritik Niemand hat je ernsthaft behauptet, dass es nur einfach sein würde, Musikstadt zu werden. Auch dem Premierenpublikum wurde einiges an Konzentration abverlangt. Aber es wurde auch belohnt, zum Beispiel mit einem Countertenor, der sang wie ein Engel, einem Brahms-Eindruck, der geradezu unerhört war – und Beethovens Neunter zum Finale

So was kommt von so was. Wenn man die verständliche Aufregung des ersten Abends abzieht, das ungelernte Gefühl, als Musiker nun wirklich und geradezu hautnah von seinem Publikum umzingelt zu sein, ebenso wie die Erkenntnis, dass man an sehr leisen Stellen nicht nur sehr leise spielen kann und darf, sondern auch muss – dann bleibt nach dem ersten der beiden Elbphilharmonie-Eröffnungskonzerte der Eindruck, dass der Große Saal ein Wunder ist. Und eine enorme Herausforderung. Und eine riesige Chance. Auch für die Besucher, die Teil des Prozesses Kunst sein werden. Andererseits: Niemand hat je ernsthaft behauptet, dass es nur einfach sein würde, Musikstadt zu werden.

Natürlich klappte der bewährte Trick von NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock bestens, die Musiker je nach Repertoire als musikpädagogischen Spezialeffekt im Saal zu verteilen. Kein Applaus passte zwischen die Etappe dieser Lehrstoff-Langstrecke, um die Konzentration nicht zu verwässern. ­Alles gehört in der Musik mit allem zusammen, erklärte diese Collage unterschiedlichster Stile und Eindrücke. Wer das Glück hatte, nur wenige Meter von Countertenor Philippe Jaroussky und seiner Begleit-Harfe in einem der Seitenränge zu sitzen und gewissermaßen jede Bewegung seiner Stimmbänder hören zu können, wird das so schnell nicht vergessen, weil ein Engel zu singen schien. Frühbarocke Vokalkunst, die so präzise hoffentlich überall in den Tiefen des Raums ankam und wirkte.

Noch ist es auch mehr als ungewohnt, womöglich steil nach unten und von hinten aus das Tutti zu hören und nicht à la Laeiszhalle vor allem auf- oder seitwärts. Frontalunterricht ist in dieser steilen, riesigen und doch wohnzimmerlich gemütlichen Herzkammer der Elbphilharmonie nur die Ausnahme, auf wenigen Plätzen, nicht die Spiel-Regel. Wie der Saal mit welchen Instrumental-Klangfarbenkombinationen umgehen kann oder auch nicht, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

Ebenfalls ungewohnt und noch lehrreicher allerdings ist es, dass man vermeintlich bekannte Stücke neu entdecken könnte, weil dieser Saal erbarmungslos ehrlich Details herausmodellieren kann. Eine Tuba im Schlusssatz Brahms’ Zweiter? Theoretisch bekannt, steht in der Partitur, aber so, hier, so präsent: komplett unerhört. Wenn ein Hornist nur einen Moment zu lang darüber nachdenkt, ob er gerade richtig ist, wird nicht mehr nur er das hören. Überhaupt: Im klassisch-romantischen Repertoire – von Beethoven aus, der hier offenbar bravourös klingen kann, einige Jahrzehnte in beide Richtungen – dürfte dieser Saal ungeahnte Möglichkeiten des Scheiterns an Details bieten. Doch ebenso des Glänzens. Mitunter machte Hengelbrocks Dirigat noch den Eindruck, er wolle es lieber nicht übertreiben mit Dynamik und dem freudvoll auskostenden Hineinlegen in die Risiko-Kurven einer Partitur.

Eine besondere Herzensangelegenheit für den NDR-Maestro, der auf diesem Posten ja kaum mit Opern-Repertoire zu tun hat: Wagner, das „Parsifal“-Vorspiel, auf das Rolf Liebermanns rasantes Orchester-Galopp „Furioso“ bereits angespielt hatte. Nichts auch hier, hinter dem man sich bei kleinen Leistungsschwankungen noch verstecken könnte. Wer falsch einsetzt, bekommt von diesem Saal ein akustisches Martinshorn aufs Notenpult verpasst (die sind für das Orchester übrigens sehr elegant beleuchtet).

Nachdem Hengelbrock im ersten Teil des Konzerts eine große Portion klassischer Avantgarde als Stresstest auf die Gipsfaserplatten-Wellen der „Weißen Haut“ losgelassen hatte (und auch auf die Geschmacksnerven mancher Ehrengäste), legte er nach der Pause mit der Uraufführung von Wolfgang Rihms „Reminiszenz“ nach. Hier jedoch breitete sich, dem Schaffen und der Mentalität des Hamburger Autors Hans Henny Jahnn nachhorchend, eine dicke Nebelbank der Melancholie über das Konzert. Ein Stück, das in fahlen Farben über Sein und vor allem Nichtsein nachdachte, wie eine schwer morbide Melange aus Schubert, Mahler und Henze über arg letzte Dinge. Die sporadisch hineinkomponierte Orgel spielte eher eine Nebenrolle, Iveta Apkalnas großer Abend an diesem Instrument wird erst noch kommen. Tenor Jonas Kaufmann hatte bekanntlich die Prestige-Premiere absagen müssen. Pavol Breslik schaffte es in dieser knappen Viertelstunde nicht, über den Status eines achtbaren Stunt-Doubles hinauszukommen.

Auf der Zielgerade des Abends dann, im bei solchen Anlässen offenbar unverzichtbaren Finale von Beethovens Neunter, als zum ersten Mal das Hauptthema sein aufklärerisches Haupt in den Streichern erhob und Hengelbrock es zu einem Krimi aus Noten machte, war es so brutal still, dass man einer Steck­nadel dabei zuhören konnte, wie sie über das Fallen nachdachte.

Diese nervenverschlingende Disziplin zu einem spielerischen Vergnügen für ein ganzes Orchester zu machen, wird nicht einfach sein. Für einen Quasi-Hausdirigenten und Podiums-Stammgast wie Thomas Hengelbrock nicht, und noch viel weniger für die vielen Durchreisenden der nächsten Wochen und Monate. Man möchte ihnen schon jetzt starke Nerven wünschen.