Hamburg.

Man sollte das ganze ­alte Repertoire abschaffen und hauptsächlich neue Stücke spielen, hat die Weltklasse-Geigerin Patricia Kopatchinskaja einmal gesagt. Und ihre Kollegin Anne-Sophie Mutter nahm bereits 1988 eine CD mit Werken unter anderem von Lutoslawski und Rihm auf. ­Titel: „Mutter modern“ – immer nur das alte Zeug, das mögen die meisten der großen Künstler nicht. Oder um es mit Frau Kopatchinskaja zu sagen: „Wenn man Mendelssohn und Tschaikowsky viel spielt, klingt es wie altes Bier.“

Wie altes, abgestandenes Bier klang Wolfgang Rihms Auftragskomposition „Reminiszenz“, die am Mittwoch in der Elbphilharmonie uraufgeführt wurde, nun keineswegs, im Gegenteil: Für ­manche Ohren war es vielleicht etwas zu prickelig, zu verquer und vor allem zu ungewohnt, was Thomas Hengelbrock da mit großer Geste dirigierte. Vor allem war es: neu. Uraufführungsneu. Musste das sein? Hätte es nicht auch ein bisschen Mozart sein können? Klar, hätte schon, aber üblich und ­Tradition ist Neues, wenn es Neues zu feiern gibt. Das war bereits 1891 so.

Damals eröffnete am 5. Mai in New York die Carnegie Hall, heute eines der berühmtesten Konzerthäuser der Welt. Am Pult des Eröffnungsabends stand unter anderem Peter Tschaikowsky, und was dirigierte er: eigene Werke, das ganz frische Zeug, nichts aus den Archiven. Die wenigsten Besucher werden gekannt haben, was da von der Bühne kam, es war halt etwas sehr Zeitgenössisches. Und als die Carnegie Hall 2016 den 125. Geburtstag beging, blieb sie ihrer Neues-mit-Neuem-feiern-Linie treu: Sie gab 125 Kompositionen in Auftrag, die bis zum Jahr 2020 eine nach der anderen in der ehrwürdigen Halle erklingen sollen. Ein klares Bekenntnis zur musikalischen Gegenwart, natürlich auf höchstem Niveau, auch wenn die Namen der meisten beteiligten Komponisten von Magnus Lindberg bis Olga Neuwirth nur Experten etwas sagen.

In der Regel sind es natürlich weit weniger neue, extra für den speziellen Anlass geschriebene Stücke, die an Tagen wie der Elbphilharmonie-Eröffnung gespielt werden. Aber ganz ohne geht es nicht. Als zum Beispiel 2003 in Los ­Angeles die Walt Disney Concert Hall eröffnet wurde, erklang als Uraufführung „The Dharma At Big Sur“ von John Adams, ein Stück für elektrische Geige und Orchester. Dazu wurden – neben ­Mozart und Haydn – Werke von Ligetti, Lutoslawski und Salonen serviert; alles andere als ein auf Nummer sicher ­gehendes Best-of-Klassik-Programm. Jubel gab es trotzdem. Oder vielleicht gerade deshalb?

Und zur Öffnung der Philharmonie de Paris erklang im Januar 2015 nicht nur einiges aus dem Oeuvre von ­Maurice Ravel, sondern auch das von Organist Thierry Escaich mit großem Aufwand komponierte Concerto for ­Orchestra – natürlich extra für diesen weltweit mit Spannung erwarteten Abend geschrieben. Keine Kuschel­klassik-Nummer zum gediegenen Mitsummen, sondern neue Musik, die zum genauen Hinhören zwingt, die nicht ­jedem gefällt, aber auch nicht jedem ­gefallen will und muss.

Früher sei das Publikum viel mehr daran gewöhnt gewesen, Uraufführungen zu erleben, hat der große Dirigent Nikolaus Harnoncourt (1929–2016) einmal gesagt. Wichtig sei es, in unserer Zeit ein neues Konzertrepertoire zu ­bilden, sich nicht allein mit dem Bekannten zu bescheiden. Tatsächlich gibt es Konzertprogramme, wie wir sie heute kennen, erst seit dem 19. Jahrhundert. Davor wurde schlicht Aktuelles gespielt, stellten Komponisten ihre neuen Werke direkt dem oft sehr kritischen Publikum vor.

Manches wurde nur achselzuckend zur Kenntnis genommen (Richard Wagners „Der fliegende Holländer“), für anderes gab es stürmischen Applaus – schön zu sehen etwa in Milos Formans Hollywood-Blockbuster „Amadeus“. Und Werke, die bei der Premiere untergingen, machten dann doch ihren Weg: Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“, Giacomo Puccinis „La Bo­hème“. Heute sind es Klassiker.

Was das für Rihms „Reminiszenz“ bedeutet? Das wissen wir vielleicht erst in 100 Jahren.