Hamburg. Mit „Figure humaine“ weiht die Choreografin Sasha Waltz die Foyers der Elphi ein. Surround-Ballett, ein Treppenhaus-Konzertmarathon.
Tänzerschweiß riecht auf kurze Distanz echt streng. Aber wenn diese Körper zum Greifen nah sind, wie sie, unbeirrbar geleitet, durch die Luft wandern mit diesen Rennpferd-Muskelsträngen, zugepumpt mit Adrenalin, dann steht für diesen Augenblick die Erhabenheit der Kunst an sich vor einem und blickt durch einen hindurch.
Bei solchen Augen-Blicken gibt es keine sichere Distanz mehr zum Konsumprodukt „Kultur“, das man bequem anschafft und bequem absitzt; man selbst ist auf der Bühne, wenn man Pech hat oder Glück, und wird bisweilen sogar angefasst, und das nicht nur oberflächlich. Wird sanft, aber bestimmt beiseitegeschoben, wenn man dem „So und nicht anders“-Prinzip im Weg steht. Jeder Einzelne ist Teil des Abends. Es ist so radikal befreiend und so anstrengend, als wäre man im Orchestergraben und könnte die Vibrationen der Musik, frisch aus der Geige, an der eigenen Schulter und im Ohr spüren.
Streichelnde Flirts mit diesem Bühnenbild aus Wänden
Eine dermaßen hautangenäherte Begegnung mit der Körper-Kunst der Choreografin Sasha Waltz ist im besten Fall nicht einfach, das nun wirklich nicht. Rund 600 glücklich Verwirrte konnten am ersten Tag des neuen Jahres dabei sein, am ersten von vier natürlich restlos ausverkauften Abenden, als Waltz mit etlichen Dutzend Tänzern und Musikern die Foyers und den Großen Saal der Elbphilharmonie ... tja, was eigentlich: vertanzte, betanzte, antanzte, umtanzte? „Figure humaine“, benannt nach einer doppelchörigen Kantate von Poulenc, war eine anstrengend grandiose Annäherung an eine Schutzhülle aus Glas und Beton und Stahl für ganz große Gefühle. Mit Kollektivgesten, Gebetsglöckchengebimmel und feierlichen Elementen, die an eine Taufe oder eine Einweihung erinnerten, was durchaus ins Bild passte, denn seine Jungfernfahrt hat das nah ans Wasser gebaute Gebäude ja erst noch vor sich.
Noch aber ist es vor allem ein Versprechen.
Die Menschenmasse verströmte sich über mehrere Stockwerke, in eine Performance hinein, die streng abgezirkeltes religiöses Pathos mit rangelndem Chaos und mitunter auch nur kunstgewerblicher Gebrauchs-Anmut kombinierte. Und ohne Publikum direkt in Griffweite wäre diese Raum-Installation aus Fleisch und Herzblut ohnehin eine konstruierte Angelegenheit geblieben.
Die Elbphilharmonie soll ja gerade alles andere sein als museal
Man kennt das ja seit Langem von Sasha Waltz – wo auch immer eine spektakuläre Hochkultur-Immobilie eröffnet oder umgebaut wird, scheint am Ende als Anfang ein wohlfeiler Abend mit ihr und ihrer Berliner Compagnie eingeplant zu sein. Besonders gut funktionierte das bislang mit Museen, weil der Kontrast mit Geschichte automatisch für Spannung sorgt. Doch die Elbphilharmonie, lange als elitäre Dünkelbude beschimpft, soll ja gerade alles andere sein als museal. Werte vermitteln und erklären, das ja. Alte Meister kurz abstauben und dann zurück mit ihnen in die Wertsachen-Vitrine? Das nicht.
Das „human requiem“, eine aus Berlin importierte Raum-Arbeit ihres Mannes Jochen Sandig, war 2012 auf der noch sehr rohen Plaza-Baustelle ein Brahms-Vorspiel gewesen, ein zu Herzen gehender Appetizer. Jetzt aber, eingefasst von den sinnlich handschmeichelnden Materialien im Foyer des Großen Saals, wurde, endlich, nach Jahren des Wartens und der Baustellen-Krisen, der Hauptgang serviert. Maßarbeit, in diesem Raum entworfen und nur hier denkbar. Die Tänzerinnen und Tänzer von „Sasha Waltz & Guests“ taten, was der normale Besucher sich wohl verkneifen wird: Sie be-griffen stumm staunend Details dieser Architektur, die so voller Unglaublichkeiten steckt. Abstrakte Gesten, streichelnde Flirts mit diesem Bühnenbild aus Wänden, Winkeln, Perspektiven und Eindrücken.
Körper, die sonderbar unschöne und unperfekte Geräusche machten
„Gute“ oder „schlechte“ Standpunkte gab es nicht. Die Kunst kam zum Empfänger, früher oder später, als Klang aus einer der anderen Foyer-Etagen, wo sich Instrumentalisten verteilt hatten, oder als Körper, die sich immer mehr individualisierten, je näher sie dem Epizentrum Großer Saal kamen. Nach dem Beginn, auch mit etwas Poulenc, und dem großartigen Vocalconsort Berlin folgte eine Musikmischung, die auf Unberechenbarkeit setzte. Zeitgenössisches, Barockes, Musik, die vor allem Rhythmus lieferte, um den Körpern eine Rollbahn zum Abheben zu geben.
Mittendrin auf einmal die Geigerin Carolin Widmann, barfuß mit Bach, eine der wild geschwungenen Treppen hinunterschreitend. Später, vor dem langgezogenen Bartresen, wuselte sich die Truppe in einem Verstörungsmanöver in seine Beobachter hinein. Kurz bevor Glocken die Prozession durchs Foyer beendeten und der Chor mit Poulenc endete, wo er begann, hatten sich Einzel-Kämpfer ineinander nahkampfverkeilt und mitunter auch verbissen. Körper, die sonderbar unschöne und unperfekte Geräusche machten, in einem Gebäude, das doch so sehr für Schönheit und Perfektion erdacht wurde.
Und was das nun war, mehr als zwei Stunden lang, bis zum begeisterten Schlussapplaus? Surround-Ballett, ein Treppenhaus-Konzertmarathon mit Ausdruckstanz-Beilage, ein „Event“ für jene Sorte Publikum, das normalerweise nie im Leben zu „Events“ gehen würde? Von allem etwas wohl. Die hintersinnigste Überraschung hatte sich Waltz aber für die Etappe im Großen Saal selbst aufgehoben, in dem bis zum Eröffnungskonzert am 11. Januar doch eigentlich kein Fitzelchen Musik vom Publikum gehört werden soll: Es gab „Musik“. Nur ohne „Töne“. Denn auf der Bühne, im Dämmerlicht der Vorfreude, stellte sich ein Instrumental-Ensemble vor Notenpulte, um 4 Minuten und 33 Sekunden lang nicht zu spielen. John Cages größter, tiefgründigster Witz und einziger Hit, als Solo für Konzertsaal mit obligatem Zuhörergeräusch. Das Geheimnis wurde gewahrt. Das erste Konzert kann kommen.