Die CD-Box „A Multitude Of Angels“ von Keith Jarrett versammelt vier Solokonzerte des Pianisten

Keith Jarrett hasst Huster. So sehr, dass er schon Konzerte unterbrochen hat, um die Störer zurechtzuweisen. Das kann man übertrieben finden. Oder konsequent. Denn wenn der amerikanische Pianist auftritt, vor allem wenn er solo spielt, geht es bei jedem Ton um alles. Dann wird jeder Huster, jedes Knarzen des Saalgestühls zu einem Angriff auf die Kunst und damit auf das Leben. Jedenfalls sieht Jarrett das so.

Mit seinem „Köln Concert“ gelang dem heute 71-Jährigen 1975 ein Welterfolg. 3,5 Millionen Mal verkaufte sich das Doppelalbum mit der 66-minütigen melodiedurchtränkten Improvisation. Bis heute nicht nur ein Höhepunkt in Jarretts Schaffen, sondern ganz grundsätzlich in der Geschichte des Jazz. Auch wenn er viel mit seinem europäischen und amerikanischen Trio ­aufgenommen hat, es sind die Solo-Einspielungen, die Keith Jarrett so unvergleichlich machen. Und vor diesem Hintergrund ist die Vier-CD-Box „A Multitude Of Angels“ schlicht eine Sensation.

Im Oktober 1996 schnitt Jarrett Konzerte in Modena, Ferrara, Turin und Genua mit. Die letzten, bei denen er durchgehend, also ohne Pause zwischen einzelnen Abschnitten, improvisierte. Die letzten, bevor das Chronische Erschöpfungssyndrom, an dem er schon länger litt, so manifest wurde, dass er nicht mehr auftreten oder überhaupt Klavier spielen konnte.

Die Engel seien an den vier Abenden um ihn herum gewesen, schreibt Jarrett im Booklet zur CD-Box. Sie hätten ihn, der sich damals bereits schwach und verletzlich fühlte, sanft gedrängt, diese Konzerte zu spielen. Also spielte Jarrett, der ewige Sinnsucher mit Hang zum esoterischen Christentum und Sufismus, sie. So, als gebe es danach nichts mehr. Nie wieder.

Fast 20 Jahre lagen die Aufnahmen im Archiv, bevor Jarrett sie erstmals wieder anhörte und sich umgehend zur Veröffentlichung entschloss. Schon der erste Abend, Modena: ein einziger Höhepunkt, der stark an das „Köln Concert“ erinnert. Weit geht es hinab in die Tiefen der Melancholie. Man spürt förmlich das Herzweh, hört das Seufzen, folgt den bittersüßen Melodielinien, die immer wieder folkloristische Elemente aufnehmen. Mehr als eine Stunde lang geht das so, ohne auch nur eine Sekunde berechenbar zu sein.

Beim Turiner Abend steht hingegen die Suchbewegung stärker im Vordergrund. Hier ist Jarrett viel ungestümer unterwegs, ebenso in Genua, wo sein Spiel bisweilen den Charakter harter körperlicher Arbeit annimmt. Jetzt singt Jarrett nicht mehr nur leise mit (was er gelegentlich tut), jetzt stöhnt er, scheint sich jede Note aus der Seele zu reißen. Man ahnt, wie schonungslos diese Musik in der Konzerthalle selbst geklungen haben muss, wenn sie schon auf CD eine solche Wirkung entfaltet.

Kein Huster stört dieses Wunder, das wohl nur entstehen kann, wenn alle Umstände stimmen.

Oder Engel im Spiel sind.