Die ARD zeigt „Aufbruch“, den zweiten Teil der Romanreihe
Aus dem „Loch“, sagt Godehard van Keucken (Daniel Sträßer), werde er sie ganz schnell herausholen. Dann springt er in sein Cabrio und fährt auf unbefestigtem Geläuf davon: der Industriellenspross, der durch die Unterschicht pflügt. Die holde Hilla (Anna Fischer), die von ihm Angebetete, will aber einstweilen in der Proletenhölle zurückbleiben. Weil sie weiß, wo sie herkommt, weil sie zu einem Gutteil loyal ist ihrer Herkunft gegenüber – und weil der schneidig-stolze Godehard, der fein tafelt und stets Anzug trägt, tatsächlich ja überhaupt nicht zu ihr passt.
„Aufbruch“ heißt dieser Fernsehfilm um ein Mädchen aus der Arbeiterschicht, das sich lieber intellektuell nach oben arbeitet als durch die Wahl ihres Partners. Hilla Palm ist eine Heldin nach unserem Geschmack: Sie lässt sich nicht niederdrücken von den Verhältnissen, sie strebt nach Selbstverwirklichung. In den 60er-Jahren, in denen „Aufbruch“ spielt, ist jene um einiges schwerer zu haben als heute.
Die Hamburger Schriftstellerin Ulla Hahn, geboren 1945, arbeitet seit Jahren an einem autobiografisch grundierten Erzählzyklus und schildert in ihm den Bildungsroman ihrer gegen Widerstände kämpfenden Hilla. „Aufbruch“ ist die gleichnamige Verfilmung des zweiten Teils. Der erste Teil, „Das verborgene Wort“, war 2007 als Zweiteiler mit dem Titel „Teufelsbraten“ zu sehen. Ein Jahrzehnt später nun die Fortsetzung. Wieder spielen Ulrich Noethen und Margarita Broich Mutter und Vater, wieder führte Hermine Huntgeburth Regie nach einem Drehbuch Volker Einrauchs.
Und mehr noch als im Zweiteiler von einst wird nun die literarische Vorlage dramaturgisch verdichtet – mitunter deutlich zum Nachteil der Geschichte. Der Fokus wird vor allem auf die Begegnung zwischen Hilla und Godehard gelegt, die Herkunftswelt Hillas dabei auf einige visuelle Plattitüden und wenig subtile Deklassierungssymbole reduziert. Der Arbeiterhaushalt der Palms wirkt einem noch viel dunkleren Zeitalter als den 60ern entsprungen.
Das Milieu, aus dem Hilla Palm stammt und in dem die Bildungsferne charakteristischer war als die Armut, wird im Roman nicht nur weniger grell ausgeleuchtet; es erscheint als ein ganz anderes. Nicht nur für die Leser der Hahn-Bücher dürfte die Zuspitzung eine Enttäuschung sein – es tut dem Film allgemein nicht gut, dass er keine Zwischentöne kennt. Die Emanzipationsnöte wären auch ohne das „Loch“, in dem sie mit Eltern und Großmutter ausharren muss, darstellbar gewesen. Hilla hat Helferfiguren, die den Wettbewerbsnachteil „Unterschicht“ wettmachen. Buchhändler, Lehrer, Pfarrer – vor der Zeit sozialdemokratischer Bildungsoffensiven sind es die althergebrachten Institutionen, die sie unterstützen.
In diesem Umfeld sind alle Menschen klassenbewusst
Dank des Stipendiums der Kirche kann Hilla das Gymnasium besuchen, auf dem sie schnell Furore macht. Wegen ihrer Klugheit, aber auch wegen ihrer romantischen Erfolge: Eine „gute Partie“ macht auch bei den Mitschülerinnen Eindruck. In einprägsamen Szenen gelingt es hier dem Film, das gesellschaftliche Panorama der beginnenden 60er einzufangen. Die einen sind in den Wirtschaftswunderjahren schnell reich geworden, die anderen gehen genau bei diesen Neureichen putzen wie Hillas Mutter. Klassenbewusst sind sie alle und dabei wie bei jedem, der sich zu sehr über seinen Status definiert: beschränkt in ihren Fantasien darüber, wie sich das eigene Leben bereichern ließe.
Diese Engstirnigkeit bestürmt die Heldin mit ihrem Ehrgeiz und Optimismus. In den Romanen setzt Ulla Hahn sie einer Reihe von Prüfungen aus, an denen sie leicht zerbrechen könnte. Schon früh (im ersten Band also) ist es der Alkoholismus, der nach Hilla greift. Später dann, und diese neuralgische Stelle ihres Lebens ist geschickt inszeniert, ist es eine Vergewaltigung, die dramatisch alles zunichtemachen könnte, was die unbeugsame Hilla bisher erreicht hat. Im Film wacht Hilla zerstört auf freiem Feld auf, die Schlote rauchen im Hintergrund, sie wankt nach Hause – und geht bald für immer.
„Aufbruch“ Mi 7.12., 20.15 Uhr, ARD