Hamburg. Großteil bekommt weniger als 30.000 Euro im Jahr. Von der großen Bühne ins Synchronstudio – danach zur Arbeitsvermittlung.

Als der große Jubel aufbrandet, tritt Oliver Warsitz, schwarzes Shirt, graue Jacke, blaue Jeans, einen kleinen Schritt vor, verbeugt sich und lächelt verlegen. Sein Butler-Livree, in dem er zuvor die Diener Lane und Merriman in einer Doppelrolle spielte, hängt wieder in der Garderobe; bei der Premierenparty des Ernst-Deutsch-Theaters tragen alle Darstelle­r Zivil. Intendantin Isabella Vértes-Schütter dankt jedem Ensemble­mitglied, spricht von einer „grandiosen Leistung“, die Standing Ovations nehmen kein Ende. Der Schädel von Hauptdarsteller Patrick Abozen glänzt vor Schweiß.

Alles für diesen Moment. Sechs Wochen Proben, das sind auch sechs Wochen Zweifel. Wird die Oscar-Wilde-Komödie „Bunbury“ ankommen? Klappen die auf die Sekunde gestoppten Umbauten? Jetzt weiß Warsitz, dass sich alle Mühe gelohnt hat. Bei der Party kommt er kaum zum Essen, im Minutentakt gratulieren Freunde und Kollegen.

Schauspieler Oliver Warsitz, derzeit im Ernst-Deutsch-Theater engagiert, im Synchronstudio Hamburg
Schauspieler Oliver Warsitz, derzeit im Ernst-Deutsch-Theater engagiert, im Synchronstudio Hamburg © Andreas Laible | Andreas Laible

Applaus, Ruhm, Glamour. Das Theater der Träume. Kaum ein anderer Beruf übt diese Faszination aus. Allein um die acht Plätze im Studiengang Schauspiel an der Hamburger Theaterakademie ringen derzeit 799 Bewerber.

Theater der Träume

Paragraf 9 in dem vierseitigen Vertrag von Oliver Warsitz mit dem Ernst-Deutsch-Theater mag in die Glitzerwelt nicht so recht passen. Hier verpflichtet sich Warsitz, dass er sich „vor Ablauf des Vertragsverhältnisses beim Arbeitsamt arbeitssuchend“ meldet. Seine Brutto-Gage für dreieinhalb Monate Arbeit von Anfang Oktober bis Mitte Januar von insgesamt gut 9000 Euro inklusive Fahrkosten und Proben klingt eher nach gehobenem öffentlichen Dienst Bezirksamt Wandsbek als nach Bambi.

Und doch geht es Oliver Warsitz besser als vielen seiner Kollegen. Der Absolvent der Hochschule für Musik und Theater in Rostock lebt seit fast 20 Jahren allein von seinem Beruf, das ist alles andere als selbstverständlich in dieser Branche.

Eine Studie der Uni Münster mit dem Titel „Viel Ehre, aber kaum Verdienst“ zeigt die Realität abseits des roten Teppichs. Demnach verdienen zwei Drittel der Schauspieler in Deutschland weniger als 30.000 Euro im Jahr. Mehr als die Hälfte haben in den vergangenen zwei Jahren weniger als sechs Monate sozialversicherungspflichtig gearbeitet. In letzter Konsequenz heißt das in Zeiten ohne Engagement: Hartz IV. Und selbst bekannte Schauspielerinnen wie Nina Petri sprechen offen über ihre Angst vor dem Gang zum Sozialamt.

Blick in den Tarifvertrag

Auf den ersten Blick scheinen die fest angestellten Darsteller an den rund 150 öffentlichen Häusern – in Hamburg das Thalia und das Schauspielhaus – fein raus. Sie haben zumindest Verträge über zwei Jahre, mitunter auch über drei. Wer jedoch einen Blick in den Tarifvertrag wirft, staunt. Die garantierte Einstiegsgage liegt bei gerade 1765 Euro, je nach Rechenart der Stundenzahl knapp über oder knapp unter dem Mindestlohn von 8,50 Euro. Bühnenarbeiter verdienen deutlich besser.

Der Theater-Manager

Für Ludwig von Otting ist das Café in Blankenese ein Heimspiel, er wohnt mit seiner Familie im Treppenviertel. In der Theaterszene kennt ihn jeder, 27 Jahre führte er als kaufmännischer Leiter des Thalia Theaters eines der renommiertesten deutschen Häuser. Nie rutschte das Thalia ins Minus, obwohl es deutlich über Tarif zahlt. Gerade weil von Otting auf der Arbeitgeberseite stand, ist ein Gespräch mit ihm so spannend.

Der Tarifvertrag für Bühnenschauspieler hat ihn schon in seiner Geschäftsführerzeit geärgert. „So viele Hühner, die sich darüber totlachen, können sie gar nicht keulen“, sagt er. Zwei Jahre nach seiner Pensionierung engagiert sich von Otting im „Ensemble Netzwerk“, das sich für bessere Arbeitsbedingungen starkmacht. Die Niedriglöhne, sagt er, spiegelten auch den mangelnden Respekt gegenüber einem Berufsstand wider, der Abend für Abend Höchstleistung bieten müsse: „Es kann doch nicht sein, dass ein Schauspieler, der in der Regel einen akademischen Abschluss hat, weniger verdient als ein ungelernter Hilfsarbeiter.“

Die GDBA, die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, die für ihre Klientel diese Verträge aushandelt, sei ein „reiner Dilettantenstadl“ und mitverantwortlich für „illegale Arbeitszeitmodelle“. Von Otting kennt Regie­assistenten, die Woche für Woche 80 Stunden schuften. Er sagt: „Wenn die strengen Arbeitsrechtvorschriften, die Haftstrafen für ständige Verletzungen vorsehen, in Theatern angewendet würden, säßen alle deutschen Intendanten und Verwaltungsdirektoren im Gefängnis. Ich selbst auch.“

Die Gewerkschafterin

Ihre Stimme klingt vergrippt, die Ringe unter den Augen verraten: Eigentlich bräuchte Julia Beerhold nach Marathon-Dreharbeiten in Spanien und Polen dringend Ruhe. Aber dieser Termin beim Filmfest ist ihr als Vorstand des Bundesverbands Schauspiel (BFFS) einfach zu wichtig. Im Festzelt vis-à-vis des Abaton-Kinos geht es um Themen, die fast alle Schauspieler bewegen: Pensionskasse, Altersarmut, sozialer Schutz.

Beerhold weiß, wovon sie redet. Zu Beginn ihrer Karriere war sie nicht krankenversichert, da ihre Gagen für die Police nicht reichten. Für ein Casting von zehn Minuten tuckerte sie mit einem klapprigen Golf von ihrer Kölner Heimat nach Berlin, 570 Kilometer hin, 570 Kilometer zurück. Außer Spesen nichts gewesen, die Rolle bekam eine Konkurrentin. Inzwischen ist sie gut im Geschäft, TV-Zuschauer kennen sie aus Serien wie „Soko Köln“ oder „Rosenheim Cops“ und Fernsehfilmen wie „Emmas Glück“.

Ihr Erfolg hat an ihrer Kritik nichts geändert: „Nach wie vor sind die Hürden für den Anspruch auf Arbeitslosengeld viel zu hoch. Das ist für uns katastrophal.“ Ausgerechnet Schauspieler, Spezialisten für jedes Rollenfach, passen in kein Sozialversicherungsraster. Sie pendeln zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit, etwa wenn sie ein Hörbuch einsprechen. Und ihre Engagements im TV, im Kino oder im Theater sind fast immer befristet, dauern oft nur wenige Tage oder Wochen.

Die Intendantin

Ein Stehpult, ein ovaler Holztisch – das Büro von Isabella Vértes-Schütter wirkt eher funktional denn repräsentativ. Auf gerade mal zwölf Quadratmetern residiert die Intendantin des mit 750 Plätzen größten deutschen Privattheaters. In der Hamburger Kulturszene kann es kaum eine kundigere Gesprächspartnerin geben: Die zierliche Frau mit dem pechschwarzen Haar übernahm 1995 nach dem Tod ihres Mannes Friedrich Schütter die Intendanz, sie spielt regelmäßig selbst in ihrem Haus und kümmert sich als SPD-Abgeordnete in der Bürgerschaft um das Thema Kultur.

Isabella Vertes-Schuetter ist  Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters
Isabella Vertes-Schuetter ist Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters © Roland Magunia | Roland Magunia

Vor allem macht ein Besuch bei Vértes-Schütter klar, warum in der Kultur die schablonenhafte „ihr da oben, wir da unten“-Denke nicht funktioniert. Vorstände von DAX-Konzernen müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie 50-mal so viel verdienen wie ihre Angestellten. Wer dagegen ein Privattheater führt, kämpft schlicht ums wirtschaft­liche Überleben. 1,72 Millionen Euro steuert die Stadt zum Fünf-Millionen-Euro-Etat bei, das Theater braucht eine Auslastung von 70 Prozent, um nicht in die roten Zahlen zu rutschen. Die Sig­nale im Vorverkauf für die noch folgenden 25 „Bunbury“-Vorstellungen sind positiv­. Genaue Prognosen werden aber immer schwieriger, da auch das Ernst-Deutsch-Theater deutlich weniger Abonnements verkauft, statt 18.000 wie in den 1980er- Jahren sind es jetzt gerade noch 6000.

4500 Euro brutto im Monat

Die letzte Gehaltserhöhung für das Haus gab es 2009; erst 2017, wenn der Senat die Zuschüsse für die Privattheater erhöhen wird, dürfen die festen Mitarbeiter wie die befristet engagierten Schauspieler auf mehr Geld hoffen. Als Chefin von 120 Angestellten, davon rund 40 auf 450-Euro-Basis, verdient Vértes-Schütter gerade 4500 Euro brutto im Monat, weniger als ein Bank-Filialleiter. Sie selbst findet das okay: „Ich hätte große Probleme, für mich etwas zu fordern, was ich für meine Mitarbeiter nicht möglich machen kann.“

Natürlich befürwortet sie als Sozialdemokratin den Mindestlohn. Den Etat hat das neue Gesetz indes mit 50.000 Euro im Jahr belastet; die Stundenlöhne der Mitarbeiter in der Garderobe und am Einlass, vornehmlich Studenten und Rentner, mussten erhöht werden.

„Wenn es wieder etwas zu verteilen gibt, dann machen wir das auch“, sagt die Intendantin. Derzeit kann sie nur mit einer besonders familiären Atmosphäre punkten. Sie duzt sich mit fast allen Mitarbeitern. Als „Bunbury“-Regisseur Preissler sichtlich angespannt auf ihren unangekündigten Probenbesuch reagiert, beruhigt sie ihn: „Anatol, ich schaue mit ganz viel Liebe zu.“

Kann man in diesen Zeiten jungen Leuten guten Gewissens raten, die Schauspielkarriere einzuschlagen? Vértes-Schütter überlegt lange, sagt dann: „Wer diesen Beruf unbedingt machen möchte, sollte es nach wie vor tun. Aber man muss längere Durststrecken aushalten können.“ Ihr Sohn Daniel (26) ist dazu bereit, er spielt auch am Ernst-Deutsch-Theater. Und sein Bruder Mischa (18) hat nach dem Abitur schon Vorsprechtermine.

Die Künstlervermittler

Ein schwarzer Vorhang, eine kleine Garderobe, fünf Scheinwerfer – die Bühne im zweiten Stock eines Bürogebäudes am Heidenkampsweg/Ecke Süderstraße in Hamm strahlt spartanischen Charme aus. Eine Aufführung wird hier nie stattfinden, nicht einmal eine Probe. Wer auf dieser Bühne vorspricht, hat nur ein Ziel: die Aufnahme in die Künstlervermittlung der Arbeitsagentur. Die Kartei zählt inzwischen 15.000 Kunstschaffende aus allen Sparten; vom Opernsänger bis zum Visagisten. Die Kosten trägt die Arbeitsagentur.

Irene Pesel und Anja Niederfahrenhorst schauen sich regelmäßig neue Kandidaten für den Bereich Schauspiel an. Beide sind vom Fach: Pesel war Regisseurin und Dramaturgin, Niederfahrenhorst 30 Jahre Schauspielerin. Sie kennen das Geschäft zu gut, um noch irgendwelchen Illusionen nachzuhängen: „Schauspieler sollte nur jemand werden, der leidensfähig ist“, sagt Pesel. Die Suche nach Engagements werde immer schwieriger: „Häuser werden geschlossen oder zusammengelegt; ganze Sparten werden weggekürzt.“

Mehr Bewerber als Stellen

Der Traum von den Brettern, die angeblich die Welt, in Wahrheit aber kaum Geld bedeuten, ist dennoch ungebrochen. Allein in Hamburg bilden neben der staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Harvestehude noch sechs größere private Schulen Schauspieler aus. Sie liefern Nachwuchs für einen Markt, der bereits völlig überlaufen ist. „Es gibt deutlich mehr Bewerber als vakante Stellen“, sagt Pesel. Das Überangebot sorge für einen Rückgang der Gagen. „Viele Schauspieler, die ich kenne, verdienen heute deutlich weniger als vor 20 Jahren“, sagt Niederfahrenhorst.

Prekäre Verhältnisse sind längst keine Ausnahme mehr. In Internet-Stellenportalen wird ganz offen inseriert, dass mehrwöchige Probephasen gar nicht oder nur mit einer Pauschale von 1000 Euro honoriert werden – was auch dazu führt, dass der Schauspieler in der Probezeit nicht einmal sozialversichert ist. Ganz tief im Niedriglohnsektor waten dann Märchendarsteller, die mit kleiner Crew und großem Transporter über die Lande fahren, in Bürgersälen selbst auf- und abbauen, Eintrittsgelder kassieren; alles für eine Tagesgage von 45 Euro. „Von manchen Privattheatern erhalten wir Stellenangebote, in die wir nicht vermitteln können, weil sie zu weit unterm Gagenniveau liegen. In derart prekäre Arbeitsverhältnisse vermitteln wir nicht“, sagt Niederfahrenhorst.

Die „Tatort“-Kommissare

Die Kellnerinnen mit den „Tatort“-T-Shirts servieren Bürgermeisterstück vom US Beef und Filet vom Atlantik-Seeteufel, selbst die Servietten ziert die Zielscheibe der populärsten deutschen Krimireihe. Jazzer Klaus Doldinger, eigens eingeflogen mit seiner Band Passport, intoniert die Titelmelodie; 400 Gäste klatschen sich die Finger wund.

Tatort: Jetzt wird es spannend
Tatort: Jetzt wird es spannend © ARD | ARD

An diesem Novemberabend im Curio-Haus an der Rothenbaumchaussee glitzert die Fernsehwelt. Auf dem roten Teppich posieren Deutschlands bekannteste Ermittler, allen voran Maria Furtwängler (Hannover) und Axel Milberg (Kiel), Hauptdarsteller im 1000. „Tatort“, dem „Taxi nach Leipzig“. Und während vor ein paar Wochen zuvor der Schauspieler-Verband BFFS beim Filmfest nur dank einer Spende der Rundfunk-Pensionskasse Wein und Bier ausschenken konnte („Aber bitte erst nach der Veranstaltung“), mixen die Barkeeper im Curio-Haus Gin Tonic, Cuba Libre­ und Wodka bis zum Abwinken.

Der Aufwand passt zu den „streng geheimen ,Tatort‘-Gagen“, die „Bild“ ermittelt haben will. Demnach soll Maria Furtwängler mit 220.000 Euro pro Fall an der Spitze der Gehaltsliste stehen. Ulrich Tukur (Hamburg) folge mit 120.000 Euro, Axel Milberg mit 115.000 Euro. Eva Mattes vom Bodensee-„Tatort“ stehe zusammen mit ihrem Schweizer Kollegen Stefan Gubser mit 60.000 Euro am Ende der Gehaltstabelle; Til Schweiger (Hamburg) fehlt in der „Bild“-Liste. Laut der „Rheinischen Post“ fordern die Münsteraner Quotengiganten Axel Prahl und Jan-Josef Liefers eine Verdoppelung ihres Salärs, sie würden dann angeblich jeder über 200.000 Euro bekommen. Die ARD will das nicht kommentieren, Verträge seien vertraulich. Ohnehin sind die kolportierten Gagen schwierig einzuschätzen, da es auch stets um die Höhe der Wiederholungshonorare geht.

Klaus J. Behrendt, seit 19 Jahren als Kommissar Max Ballauf Mördern auf der Spur, nerven diese Spekulationen. Die Öffentlichkeit solle lieber darüber diskutieren, dass unter dem Spardruck die Zahl der Drehtage immer weiter reduziert werde. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dietmar Bär kämpft er dafür, dass der WDR zumindest an 23 Drehtagen festhält, anders sei die Qualität nicht mehr zu halten: „Die ,Tatort‘-Folgen werden immer schneller, entsprechend viele Einstellungen müssen wir drehen.“ In der Tat wirken alte Krimi-Schinken wie „Derrick“ oder „Der Kommissar“, wo minutenlang wechselweise geraucht, Kaffee getrunken oder Cognac geschwenkt wird, geradezu einschläfernd.

Dennoch werden sehr wohl auch intern die „Tatort“-Gagen kontrovers diskutiert. „Die Sender zahlen immer mehr für die Stars, die das Publikum ziehen. Da die Budgets aber nicht steigen, bleibt für die anderen Schauspieler immer weniger übrig“, klagt eine Hamburger Agentin, die ungenannt bleiben will. Zudem sei es ein Irrtum, dass ein „Tatort“-Engagement automatisch zu mehr Rollenangeboten führe. „Die Leute denken, dass ich jetzt viel mehr gebucht werde, das stimmt aber nicht“, bestätigt „Bunbury“-Hauptdarsteller Patrick Abozen, von der Kritik als neuer Assistent im Kölner „Tatort“ gefeiert. Der Hamburger ist daher froh, dass er auch 2017 mit dem Publikumsrenner der Kammerspiele „Ziemlich beste Freunde“ unterwegs sein wird. Zur „Tatort“-Feier in Hamburg hatte er keine Einladung.

Mindestgage 750 Euro

Auch im komödiantischen Fach hört der Spaß bei der Gagenfrage auf. Als bei einer Veranstaltung im Schanzenviertel über die Zukunft des Film- und Fernsehstandorts Hamburg Schleswig-Holstein die neue NDR-Komödienreihe „Nordlichter“ als wegweisend gepriesen wird – die Filmförderung unterstützt jede Folge mit 300.000 Euro, um den Nachwuchs zu stärken – platzt einem Schauspieler der Kragen: „Ich weiß von mehreren Kollegen, dass Drehtaggagen bei „Nordlichter“-Projekten weit unter der Mindestgage von 750 Euro lagen. Und dabei handelt es sich keineswegs nur um Nachwuchsschauspieler. Wie kann das sein bei Filmen, die ein öffentlich-rechtlicher Sender produziert und die von der Filmförderung unterstützt werden?“

NDR-Fernsehfilmchef Christian Granderath verweist gegenüber dem Abendblatt darauf, dass der Sender einer von drei Partnern bei dem Förderprogramm für den Nachwuchs sei. Das Budget liege mit 900.000 Euro pro Film deutlich niedriger als etwa beim „Tatort“. Daher könne der Produzent auch nicht immer die dort üblichen Gagen zahle. Dies sei bei Erstlingsfilmen branchenüblich. Granderath kündigt allerdings an: „Der NDR hat das Problem erkannt, bereits gegengesteuert und wird nun seinen Anteil erhöhen, um eine größere Annäherung an die üblichen Gagen zu ermöglichen.“

Die Casterin

Der Weg zu der Casterin, die Oliver Warsitz für Rollen im Fernsehen oder im Kino besetzt, führt in Ottensen über Kopfsteinpflaster und alten Straßenbahnschienen vorbei an Filmplakaten. Im ersten Stock über der Filmhauskneipe, nur durch eine Wand vom Zeise-Kino getrennt, residiert Marion Haack mit ihrem Castingbüro. Die Tür steht offen, das war nicht immer so. Als das Abendblatt vor Jahren berichtete, dass für den Hamburger „Tatort“ ein neuer Kommissar gesucht werde, standen mitunter wildfremde Männer in ihrem Büro und erklärten: „Guten Tag, ich bin Ihr neuer Kommissar.“ Worauf Marion Haack lieber ein paar Wochen die Tür verschloss.

„Die Castingshows haben leider dazu geführt, dass viele Menschen denken, Schauspielerei sei doch ganz einfach“, sagt sie. Seit 2008 sucht die gelernte Betriebswirtin und Touristikfachfrau im Auftrag von Produzenten nach neuen Darstellern für Kinofilme wie „Freistatt“ oder „Freier Fall“ und Serien wie „Großstadtrevier“ und „Die Pfefferkörner“. Ihr wichtigstes Arbeitswerkzeug ist die Internetplattform „Filmmakers“, eine Datenbank mit Details zu über 24.000 Schauspielern aus Deutschland. Die Software rastert die Darsteller nach ihren Fähigkeiten; Harfe spielen können 41, Dreisprung dagegen nur einer.

Marion Haack bringt indes etwas mit, was kein Computer leisten kann: exzellente Kontakte und Marktkenntnisse – vor allem in der norddeutschen Schauspielerszene. Im Fernsehen besetzte sie Warsitz zuletzt 2014 in einer Folge von „Großstadtrevier“. Im Vergleich zum Theater werden TV-Rollen in Serien gut bezahlt, auch Nebendarsteller bekommen pro Drehtag häufig mehr als die Tarifgage von 750 Euro. Wobei Haack einschränkt: „Auch Textlernen, Kostümproben, Nachsynchronisationen sind damit in aller Regel abgegolten. Mit einem Tag ist das oft nicht getan.“

Mit Sorge beobachtet sie den wirtschaftlichen Druck vieler Produzenten: „Die Etats werden weiter heruntergefahren, obwohl die Qualität steigen soll.“ Oft meldeten sich Schauspieler bei ihr, warum sie nicht mehr gebucht werden. „Die denken, ich habe sie vergessen. Das stimmt aber nicht, die Auswahl ist nur noch größer geworden“, sagt sie. Auch Warsitz hat deutlich weniger TV-An­gebote. In diesem Jahr kommt er nur auf zwei Drehtage in der Serie „Neues aus Büttenwarder“. Er vermutet, dass Produzenten stärker auf prominente Namen als Zugpferde setzen. Marion Haack rät jedem Schauspielschüler, sich noch ein anderes Standbein zu suchen, wie etwa Synchronjobs: „Nur wenige können von der Schauspielerei allein leben.“

Die Synchronsprecher

Die Sprecherkabine ist enger als eine Telefonzelle. „Zieh deinen Pullover besser aus, wird warm da drinnen“, empfiehlt der Toningenieur. Um 8 Uhr hat in dem Bürobau gegenüber der Rindermarkthalle der Synchrontag von Oliver Warsitz begonnen; für ihn wie für viele seiner Kollegen werden Sprecherjobs angesichts fehlender Engagements als Schauspieler immer wichtiger.

Für eine englischsprachige Dokumentation über das Gehirn macht Warsitz an diesem Morgen ein sogenanntes Voice over, das heißt, er spricht den deutschen Text über das Original, den man dennoch leise hört. Medizinische Fachbegriffe wie „Cortexbereiche“, „Parietallappen“ oder „Okzipitalregion“ rauschen durch die Boxen, es wird, man ahnt es, eine dieser Dokumentationen, wo der Laie nur Bahnhof versteht. Warsitz hat sich am Vorabend präzise vorbereitet, schlägt vor, wie man das ein oder andere Satz-Ungetüm entschärfen könne. „Nee, lass uns lieber beim Originaltext bleiben“, wehrt der Mann am Mischpult ab. Auftrag ist Auftrag, außerdem kommt gleich der nächste Sprecher ins Studio. 100 Euro stehen nach rund 90 Minuten auf dem Gagenschein.

Mittags dann der nächste Termin, ein am Vortag vereinbartes Engagement bei Hamburger Synchron in der Nähe der Mundsburg. Warsitz ist für einen erkrankten Kollegen eingesprungen, synchronisiert zwei Figuren einer skandinavischen Fantasy-Serie. Das Honorar für erneut 90 Minuten beträgt 118,40 Euro, Warsitz unterschreibt wieder, dass er seine Rechte „uneingeschränkt“ abtritt.

Sechs Stunden später beginnt Warsitz’ Spätschicht, wie seine fünf an diesem Abend von einem Wandsbeker Tonstudio verpflichteten Kollegen hat er eine Flasche Wasser unter den Arm geklemmt. Eine gute Idee, in der Küchenzeile am Eingang steht nur eine Kaffeemaschine zur Selbstbedienung, ein Sparschwein auf der Theke bettelt um Bares für diesen Service. Der Film kommt aus der indischen Bollywood-Massenproduktion, ein kruder Streifen über einen indischen Regisseur, der aus der elterlichen Videothek flieht, um mal etwas Anspruchsvolles zu drehen.

Der indische Schauspieler Irrfan Khan hat sich auch in Hollywood und in Bollywood einen Namen gemacht
Der indische Schauspieler Irrfan Khan hat sich auch in Hollywood und in Bollywood einen Namen gemacht © dpa

Die Crew um Warsitz wird in den kommenden Stunden die Kleinstrollen synchronisieren, staunende Gaffer, rüpelhafte Prolls, seltsame Fabelwesen. Der Regisseur kämpft um Qualität, lässt stets so lange wiederholen, bis der Text lippensynchron über dem Bild liegt. Er lobt viel („großartig, meine Lieben“), erst in der Raucherpause lässt er seinen Frust über die Arbeitsbedingungen in seinem Gewerbe raus: „Alles soll schneller, billiger und dennoch besser werden. Aber wie das gehen soll, hat mir noch nie jemand erklärt.“

In der zweiten Runde muss das Ensemble an einer Stelle im Film gemeinsam Tränen vergießen. „Weint schön“, sagt der Regisseur, „das werdet ihr ohnehin, wenn Ihr nachher eure Gagenzettel seht.“ Die liegen schon ausgedruckt hinter dem Regiepult auf einem Tisch, der Regisseur hat sie sich in Wahrheit gar nicht angesehen, für das Finanzielle zeichnet das Studio verantwortlich. 225 Euro stehen nach Dienstschluss weit nach Mitternacht für jeden Synchronsprecher auf dem Honorarbogen, Warsitz hatte nach sechs Stunden hoch konzentrierter Arbeit auf mindestens 275 Euro gehofft. So stehen unter dem Strich dieses Tages nach drei Engagements 443,40 Euro, brutto versteht sich, Warsitz muss die Gage versteuern, Sozialabgaben zahlen. Trotzdem okay angesichts der abzeichnenden Auftragsflaute in den nächsten Tagen.

Über Gagenverfall klagen auch die Stars der Branche wie der Münchner Dirk Meyer, der in Serien wie „Law & Order“ Hauptdarsteller synchronisiert. Sein Honorar, sagt er, bewege sich wieder auf dem Niveau wie 1986, als er als Elfjähriger in der Serie „Alf“ dem kleinen Brian die deutsche Stimme lieh. Die Arbeit werde immer stressiger, im Akkord würden Produktionen durch­gepeitscht. „Der Hollywoodstar wird gepampert, seine deutsche Stimme steuert in die Altersarmut“, warnt der Verband deutscher Sprecher (VDS).

Machen sich die Studios also die Taschen voll? Nein, sagen Insider. Der Synchronmarkt sei überschwemmt, dank digitalisierter, günstiger Technik koste ein Profi-Studio viel weniger als noch vor 20 Jahren. Die Synchronisation eines 90-Minüters werde zu Kampfpreisen von 4000 Euro angeboten. Deshalb würden Gagen auch in Zukunft nur eine Richtung kennen: nach unten.

Die Agentin

Der Raum atmet großes Theater. In den Kammerspielen, wo regelmäßig Stars wie Christian Redl, Dominique Horwitz oder Bjarne Mädel gastieren, bittet die Agentur Filmgold, die auch Oliver Warsitz vertritt, mit vier anderen Agenturen zum Empfang. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig, das Filmfest läuft, viele Produzenten und Regisseure sind in der Stadt.

„Mischt euch unter die Leute“, mahnt Eva Wirth ihre Schauspieler. Die Kontaktbörse ist wichtig für sie, gerade in schwierigen Zeiten wie diesen. Warsitz hat sich wie die anderen Filmgold-Schauspieler mit einem Obolus an den Kosten beteiligt. Wirth muss rechnen, „das Geschäft ist härter geworden“, sagt sie. Es gebe zu viele Schauspieler – und natürlich bedeuteten sinkende Gagen auch niedrigere Provisionen. „Eigentlich handele ich gar keine Gagen mehr aus“, gibt eine andere Agentin zu. Der Produzent allein diktiere den Preis.

Wirth lässt sich dennoch nicht entmutigen, gerade erst hat sie ihrem Darsteller Niklas Osterloh eine Hauptrolle in der RTL-Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ vermittelt. Der Serientitel würde auch als Motto für den Abend taugen, die Stimmung schwankt zwischen Aufbruch, Galgenhumor und Frustration. „Ich bin ganz nah an der Rolle dran“, wispert es in einer Ecke. Vor der Tür, bei den Rauchern, sagt ein Schauspieler: „Nennt mir einen Beruf, wo man sich jede Woche bewerben darf.“ Ein anderer gibt freimütig zu: „Ich habe aufgegeben, ich fahre Taxi.“ Er verdiene ganz gut, Small Talk habe er im Job ja gelernt. Und alles sei besser, als sich ständig bei Castings demütigen zu lassen. „Da hast du recht“, sagt ein Kollege. Und berichtet von einem Casting der ganz besonderen Art: „Eine Werbeagentur wollte mich für einen Spot testen, per Webcam wurde ich von daheim zugeschaltet. Die wollten, dass ich mir einen Tennisball immer wieder ins Gesicht werfe.“ Drei Tage später habe die Agentur angerufen, sie hätte ihn gut gefunden; aber der Kunde habe sich für einen Konkurrenten entschieden. Leider, leider.

Die Leidenschaft

Am Ende einer langen Reise durch die Szene blitzt ein Gedanke auf. Vielleicht führt die Berufsbezeichnung Schauspieler in die Irre, vielleicht wäre Schauarbeiter besser. Wer die „Bunbury“-Proben sehen durfte, erahnte die ungeheure Leistung der Crew. Drei Wochen lässt Regisseur Anatol Preissler sein Ensemble zunächst nur den Text sprechen, die Schauspieler sollen Tag für Tag mehr in ihre Rollen wachsen. Zwischendurch Kostümproben, Einstudieren der Lieder, Tonproben.

Auf die große Bühne

Dann geht es auf die große Bühne. Zwei Tage vor der Premiere fällt Jens Wawrczeck, hinreißend als dominante Lady Bracknell, in der Probe die Echthaarperücke vom Kopf. Wawrczeck ulkt: „Solche Tricks sind mir eigentlich zu billig.“ In das Gelächter mischt sich Angst. Wie peinlich wäre eine solche Panne bei der Premiere? Die Schauspieler proben an diesem Tag von 10 Uhr an zweimal das komplette Stück, die Stunden dazwischen gehen sie rüber ins Einkaufszen­trum, alle zusammen, obwohl der Probenplan eigentlich Freizeit vorsieht. Essen, reden, überlegen. Wo können wir noch besser werden? Nach der zweiten Probe am Abend feilt Preissler 90 Minuten im Foyer mit seinen Darstellern an letzten Details. Nach Mitternacht nimmt er die Brille ab, wischt sich die müden Augen und sagt zu Patrick Abozen, der sich nach einem 15-Stunden-Tag gerade verabschieden will: „Patrick, mach im zweiten Akt ruhig noch etwas schneller.“ Wer seine Leidenschaft zum Beruf macht, schaut eben nicht auf die Uhr. Kunst? Selbstausbeutung? Wohl beides.

Am Premierentag ist die Hälfte der Crew angeschlagen. Halsschmerzen, Husten, Schmerzmittel. „Der Lappen muss nach oben“, heißt es unter Schauspielern. Der Vorhang muss hoch, um fast jeden Preis. Wer sollte einen Darsteller so schnell ersetzen? Nicht alle halten dem Druck stand. Anja Niederfahrenhorst von der Künstlervermittlung sagt: „Schon jüngere Ensemble-mitglieder leiden an Burn-out.“

Drei Zimmer, Erdgeschoss links in einer kleinen Seitenstraße in Wedel. Hier lebt Oliver Warsitz mit seinem Sohn (13). Ein zerfleddertes Exemplar des „Bunbury“-Romans in der Original-fassung aus dem Jahr 1946 liegt auf der Fensterbank, daneben Grußkarten. Es sind seine Geschenke für das Ensemble. Den Roman bekommt Regisseur Anatol Preissler, die Karten mit persönlichen Worten seine Mitspieler. Am 7. Januar wird das letzte Mal der „Bunbury“-Vorhang im Ernst-Deutsch-Theater fallen.

Und dann? Oliver Warsitz zuckt mit den Schultern: „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.“ Ein neues Theater-Engagement ist nicht in Sicht, nur vage Synchronjobs. Er wird sich arbeitslos melden. „Eigentlich müsste mich das mehr beunruhigen. Und vielleicht sollte ich mehr unternehmen, um an neue Jobs zu kommen“, sagt er. Andererseits hat er genau das eine Zeit lang versucht, mitunter dreimal am Tag bei Agenturen vorgesprochen – Erfolg gleich null. Und irgendwie sei es ja dennoch weitergegangen, ohne Taxifahren, ohne Kellnern, ohne Hartz IV, dem Existenz-Dreikampf vieler Kollegen.

Wer Oliver Warsitz ein paar Wochen begleitet, spürt vor allem eines: In einer Branche, die so hektisch um sich selbst kreist wie keine andere, ruht Warsitz in sich. Vielleicht hat er auch privat zu viel durchgemacht, um über fehlende Engagements zu grübeln. 2013 starb seine Frau an Krebs mit gerade 45 Jahren. Oliver Warsitz hatte sie mit einem ambulanten Pflegedienst bis zuletzt daheim gepflegt.

Sie lieben ihren Beruf

Als Alleinerziehender hat er es in einer Branche, wo sich die Angebotslage stündlich ändern kann, besonders schwer. Dennoch möchte er nichts anderes machen, der Job erfüllt ihn. Ein mehrheitsfähiger Gedanke. Bei der Münsteraner Studie, in der jeder zweite Schauspieler zugab, dass er von seinem Job kaum leben kann, sagten 84,9 Prozent, dass sie sich wieder für diesen Beruf entscheiden würden.

Abendblatt-Abonnenten können für die „Bunbury“-Vorstellung am 12. Dezember (19.30 Uhr) zwei Karten zum Preis von einer Karte kaufen (PK A 39 und PK B 36 Euro), inklusive Einführung (ab 18.30 Uhr) und
Meet & Greet nach der Vorstellung mit Hauptdarsteller Patrick Abozen. Karten gibt es nur in der Geschäftsstelle (Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 9–19, Sa 10–16 Uhr) oder über die Tickethotline 040/30 30 98 98.