Hamburg. Der britische Schriftsteller Julian Barnes wird mit dem Literatur-Preis ausgezeichnet, der nach dem Hamburger Autor benannt ist.

Wenn Julian Barnes, 70, auf Lesereise geht, bittet er die Organisatoren immer, eine Stunde Freizeit für ihn einzuplanen, damit er sich in der jeweiligen Stadt Kunstgalerien oder -museen ansehen kann. „Das beruhigt mich und relativiert den oft hektischen Alltag“, sagt er. Also treffen wir uns in der Kunsthalle, die er schon von mehreren Besuchen kennt, aber noch nicht seit ihrer Umgestaltung gesehen hat. Barnes hat in seinen Büchern wie „Vom Ende einer Geschichte“, „Nichts, was man fürchten müsste“ und „Flauberts Papagei“ originell, oft witzig und ironisch über die großen Themen wie Eifersucht, Tod und Erinnerung geschrieben. Nach dem Gespräch bleibt er noch in der Kunsthalle, um sich einige Bilder in Ruhe anzusehen. Am heutigen Freitag erhält Barnes im Rathaus den mit 50.000 Euro dotierten Siegfried-Lenz-Preis.

In Ihrem Buch Die Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ haben Sie ein Kapitel über Géricaults Bild „Das Floß der Medusa“ geschrieben und erklärt, wie man aus Katastrophen Kunst macht. Wir stehen hier vor Caspar David Friedrichs „Das Eismeer“. Treffen Ihre Argumente auch auf dieses Bild zu?

Julian Barnes: Ja. Kunst kann Katastrophen besser als Glück. Auch Autoren schreiben besser über Dinge, die schieflaufen. Maler lieben Katastrophen.

Weil sie niemals aufhören?

Und weil wir einen Sinn in ihnen finden wollen. Es gibt einige Dinge, die wir uns ohne die Hilfe der Kunst nicht erklären können. Das kann man mit Texten, mit Malerei und Musik. Das Bild von Géricault ist im 19. Jahrhundert zu Ausstellungen nach England und in die USA geschickt worden. Man bezahlte Eintritt, um das große Bild zu sehen. Es muss fast so ähnlich gewesen sein, wie ins Kino zu gehen.

Sie haben ernste Themen aufgegriffen, aber sich auch mit leichteren auseinandergesetzt, zum Beispiel mit Ihrem Lieblingsverein Leicester City.

Das ist ja wohl auch ein ernstes Thema. Ich habe „Die Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln“ 1989 geschrieben. Im Kapitel über das Paradies habe ich Leices­ter City den Europacup gewinnen lassen. Den haben sie zwar noch nicht gewonnen, aber im vergangenen Jahr immerhin die Meisterschaft. In „England, England“ wird Großbritannien
übrigens aus Europa herausgeworfen. Als ich das geschrieben habe, waren das mögliche Fantasien, jetzt sind sie wahr geworden. Ich muss mal nachsehen, was ich noch alles vorhergesagt habe.

Was halten Sie vom Brexit?

Er ist ein Desaster. Man sollte nie dem rechten Flügel von Parteien nachgeben. David Cameron dachte vor der letzten Wahl, dass er nicht gewinnen würde, weil er annahm, es würde auf eine Koalitionsregierung hinauslaufen. Also hat er den Rechten in seiner Partei Versprechungen gemacht: das Referendum. Dann hat er die Wahl gewonnen. Aber er hatte es alles nicht durchdacht. Das Ganze hat die Züge einer komischen Shakespeare-Tragödie: Jeder bringt jeden anderen um, und dann kommt jemand aus dem Schatten. Nein, ich sehe im Brexit nichts Gutes. Und nun ist auch noch das zweite Desaster geschehen. Donald Trump ist gewählt worden, aber der wird uns nun wahrscheinlich ein gutes Handelsabkommen anbieten.

Sie haben zu Beginn Ihrer Karriere über ihre ersten beiden Romane selbst Rezensionen geschrieben – natürlich unter Pseudonym. War das Eitelkeit oder Verzweiflung?

Gott sei Dank sind sie nicht veröffentlicht worden. Ich habe aber in einer späteren Auflage im Vorwort zu „Metroland“ aus ihnen zitiert. Das Motiv war extreme Furcht. Wenn man seinen ersten Roman abliefert und neun Monate bis zu seiner Veröffentlichung wartet, muss man die Zeit auch irgendwie ausfüllen. Es war eine sinnvolle Übung. Heute mache ich das aber nicht mehr.

Sie bekommen den Siegfried-Lenz-Preis verliehen. In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesem Kollegen?

Ich kannte vorher nur den Namen. Mittlerweile habe ich seine Erzählungen und die Novelle „Schweigeminute“ gelesen und finde sie wundervoll. Und ich freue mich schon auf die „Deutschstunde“.

Sie holen sich schon die zweite Auszeichnung in Hamburg ab. 1993 haben Sie den Shakespeare-Preis der Toepfer-Stiftung F.V.S. gewonnen.

Ich liebe Hamburg, die Stadt ist sehr großzügig. Herr Toepfer saß damals in der ersten Reihe, im Jahr darauf ist er gestorben. Ich hatte schon vorher von dem Preis gehört und wollte ihn gern gewinnen. Einer meiner Helden, der Dichter Philip Larkin, hatte ihn schon gewonnen. Er hat England nur zweimal verlassen. Einmal kurz nach dem Kriegsende, um in Paris Jazz zu hören, und das zweite Mal, um sich in Hamburg den Shakespeare-Preis abzuholen.

Sie sind in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Was bedeutet Ihnen das?

Dass ich ein bisschen näher am Tod dran bin, als noch vor Kurzem. Ich habe Angst vor dem Tod und halte ihn für keine gute Idee, aber er ist mir stets bewusst gewesen. Ich bin zu meiner Friseurin Dora gegangen und habe ihr gesagt: Ich möchte deinen besten Haarschnitt, weil ein großer Geburtstag auf mich zukommt. Sie sagte: Weißt du Julian, 60 ist das neue 40. Ich habe geantwortet: Ich weiß, aber ich fürchte, 70 ist das neue 68. Man ist nicht so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt wie es im Pass steht.