Hamburg. Mit Kultursenatorin Barbara Kisseler verliert die Stadt eine streitbare, kenntnisreiche, charmante und unkonventionelle Politikerin. Nachruf auf eine Frau, die ihren Job liebte – und ihn verstand

Nichts ist schwieriger zu handhaben, nichts gefährlicher durchzuführen und nichts von zweifelhafteren Erfolgsaussichten begleitet als eine Neuordnung der Dinge.“ Eine aus Berlin importierte Kultursenatorin, die ihren ersten Hamburger Auftritt mit einem Machiavelli-Zitat würzte, während sich der damals frischgebackene Erste Bürgermeister Olaf Scholz neben ihr stolz schmunzelnd nach innen freute, weil seine Wahl für den Regierungsneustart so clever war. Florett statt Holzhammer also. Alle Achtung, das hatte was.

Die Neue, bis dahin als Chefin der Senatskanzlei Wowereits Frau nicht nur für die Berliner Kulturpolitik, brachte im März 2011 mit ihrer virtuos zielstrebigen Mischung aus intellektueller Brillanz, sprühender Ironie und niederrheinischem Pragmatismus einen ganz neuen Arbeitsstil in das Hamburger Amt. Als parteilose Nachfolgerin des mehr als glücklosen Kurzzeit-Kulturverwalters Reinhard Stuth (CDU) war das allerdings auch kein Kunststück. Obwohl der Hamburger Kultur-Etat der kleinste Behördenposten im Haushalt ist – er hatte mit Barbara Kisseler die charisma­- tischste Streiterin.

Wen diese Senatorin – deren Kulturbegriff beileibe nicht an der Tür von Staatstheatern endete – schätzte, den schätzte sie. Und ließ es ihn gern wissen. Besonders gern auch mal so, dass andere es mitbekamen, das gehörte zum pädagogischen Konzept. Wem es anders erging, der konnte sich bei Verhandlungen um Perspektiven oder Fördermittel-Überweisungen warm anziehen, da war nur noch wenig zu wollen, zu kitten oder gar zu retten.

Mal fiel eine Spitze gegen die Senatskollegen, die sich wieder nur mit sehr viel Mühe zu einer Premiere oder einem Museumsbesuch überreden ließen (oder eben nicht). Mal gab’s obendrauf eine kleine Stichelei gegen die allgemeine Hamburger Selbstzufriedenheit. Sexy Berlin versus Pfeffersackstadt Hamburg – auch so ein Lieblingsthema, das Barbara Kisseler in Reden und auf Podien (übrigens hier wie dort) hingebungsvoll einbaute, um sich einen Lacher zu sichern. Wenn sie an einem Mikrofon stand, wozu sie qua Amt oft genug Gelegenheit hatte, schien das für die Überzeugungspolitikerin niemals eine lästige Pflichtübung zu sein, sondern bisweilen geradezu eine Lust. Ihre Reden und Grußworte waren in der Regel brillant und ausgesprochen unterhaltsam, fast immer mit einem Quentchen Spott versehen, aber durchaus auch warmherzig und voller Zugewandtheit. Ihr Humor konnte dabei so fein wie direkt sein, sie war schlagfertig, konnte (und mochte) austeilen und – unter vier Augen sowieso, zur Not auch in größerer Runde – lästern.

Und niemals fehlte das geistreiche Zitat zum Einstieg oder als Schlusspointe. Fast schon ein Markenzeichen war es, dieses Zitieren; Machiavelli, Schiller, Shakespeare, Proust, in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt fiel ihr, befragt nach ihrer persönlichen Zukunft, vor einigen Jahren der österreichische Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl ein: „Man soll das Schicksal nicht mit Vorschlägen verärgern. Es legt zu viel Wert auf seine eigenen Einfälle.“

Mit dieser Einsicht ist es vielleicht zu erklären, dass ihre Wegbegleiter aus dem Hamburger Kulturleben, die lange von ihrer schweren Krankheit wussten, nun mit tiefer Traurigkeit, Bestürzung und, ja, auch mit Fassungslosigkeit auf ihren Tod reagierten. Natürlich war man vorbereitet – und war es eben doch nicht. Der deutlich formulierte Vorschlag ans Schicksal war, dass diese Kultursenatorin die Elbphilharmonie eröffnen möge. Hoffnung einer Szene, die sich von ihr ernst genommen fühlte.

Berührungsängste vor heißen Eisen hatte sie nicht. Sie machte sich deswegen ebenso an die Reform der Reform der Reform von Museumsstrukuren wie an die Neubesetzung der Staatsopern-Chefetage. Für die Dammtorstraße holte sie Georges Delnon aus Basel und Kent Nagano aus München. Unvergessen, weil abenteuerlich überladen: Kisselers erster Amtstag Ende März 2011, als sie zur Rundfahrt zu den drei damals akutesten Problembaustellen jenseits der Elbphilharmonie aufbrach: Gängeviertel, Altonaer Museum, Schauspielhaus. „Wir werden den Prozess therapeutisch begleiten“, versprach sie den Künstlern in der Jupi-Bar. Dieses Versprechen hat sie an etlichen anderen Kultur-Adressen ebenso gehalten.

Sie hat die Kultur nicht nur als deren Anwältin pflichtbewusst, professionell und mit hohem Rückhalt in der Szene vertreten, sondern als Seelen- und Geistesnahrung begriffen und entsprechend gelebt. Barbara Kisseler liebte die Kultur. Ein so kurzer Satz, mit so riesigen Auswirkungen. Sie liebte nicht alles, und nicht alles gleich bedingungslos, doch sie konnte ohne die beglückende Möglichkeit der eigenen Horizonterweiterung durch die kreativen Leistungen menschlicher Fantasie nicht sein.

Ihr Terminkalender während der Spielzeit hätte zwei weniger konditionsstarke Behördenchefs in die Knie gezwungen. Sie nicht. Sie wollte und musste überall hineinkosten. Preußisches Pflichtgefühl, tief verwurzelt in einer virtuos launigen Small-Talkerin, die dennoch mit nur einem Halbsatz bei ästhetischen oder moralischen Grundsatzfragen sein konnte.

Die nicht nur ihr Themenfeld, sondern auch Kisselers eigene Arbeit begleitenden Journalisten musste sie nicht als Gegner empfinden. Man stand in seinem Urteil nicht selten auf derselben Seite. Sie konnte Akten verschlingen, doch sie konnte auch beglückt strahlend – oder frustriert fluchend – aus einer Opern- oder Theaterpremiere kommen. Und wenn ihr die Lektüre für das kleine bisschen Freizeit ausgegangen war, kam abends eine SMS mit der Bitte um Nachschub-Empfehlungen.

Sie war durchsetzungsstark und pointiert, war dynamisch, energisch und schwungvoll. Anstrengend? Vielleicht. Vermutlich! „Nicht die Bequemste, aber die Kompetenteste“, konnte sie über sich lesen, das wird ihr, der Eitelkeit nicht ganz fremd war, schon gefallen haben. „Man muss Menschenliebe mitbringen“ für diesen Job, hat sie einmal selbst gesagt. „Ich kann zwar auch zu ungeahnten Höhen herzlicher Abneigung auflaufen, versuche aber, damit angemessen umzugehen. Wichtig ist, dass man weiß, was von mir zu erwarten ist.“ Für ein unverbindliches „Vielleicht“ oder ein „Schauen wir mal“ war sie eher nicht zu haben.

Barbara Kisseler wollte durchaus gemocht werden. Aber nicht zwingend von jedem. „Freundlich werden kann ich ja immer noch, umgekehrt ist das schwieriger“, fasste sie diese Haltung süffisant zusammen.

Zwar war Barbara Kisseler eine Verwaltungsfachfrau mit entsprechenden Erfahrungen in Bonn, Hilden, Düsseldorf, Hannover und Berlin, wo sie der Senatskanzlei vorstand und ein vertrauensvolles Verhältnis zu Klaus Wowereit pflegte, aber wahrlich keine, die ihre Aktenberge den (natürlich meist abendlichen, natürlich oft am Wochenende stattfindenden) Ortsterminen vorgezogen hätte. Und es kam durchaus vor, dass sie zu einem brancheninternen Hintergrundgespräch, in dem es um die Zukunft eines Metiers oder einfach um einen grundsätzlichen Gedankenaustausch gehen sollte, selbst gebackenen Kuchen mitbrachte oder man aus einem Interview mit einem Glas selbst gekochtem Quittengelee herauskam.

Dieses Bodenständige, fast ist man versucht zu sagen: verblüffend Mütter­liche, sehr Geerdete, das Barbara Kisseler, Jahrgang 1949, vielleicht eher auf den zweiten Blick auszeichnete und das nicht jeder zu sehen bekam, hat womöglich auch mit ihrer eigenen Kindheit zu tun. Zehn Geschwister waren sie zu Hause, fünf Mädchen, fünf Jungs. Der Vater Bauunternehmer, die Mutter führte einen Tante-Emma-Laden. In dieser Konstellation muss sie, die selbst keine Kinder hatte, gelernt haben, sich zu behaupten, dem eigenen Gespür für Stimmungen zu vertrauen, Selbständigkeit auszubilden. „Man entwickelt früh eine belastbare Sozialkompetenz“, erzählte Kisseler über das Aufwachsen in einem Elternhaus, in dem viel gelesen wurde. „Will man nicht ständig verhauen werden oder selber nur ,schlagende‘ Argumente gebrauchen, was nun nicht die vornehmste Art ist, muss man sich auf gemeinsames Handeln verständigen und auf Regeln dafür.“

Dem Theater fühlte sie sich besonders verbunden, befeuert durch frühe eigene Versuche auf der Schultheaterbühne. „Nach dem Abitur dachte ich, die Karriere einer begnadeten Schauspielerin sollte ich mal versuchen“, erzählte sie gern und schob selbstironisch hinterher: „Wohlmeinende Freunde haben mich davon abgebracht.“

Einen Sinn für Auftritte, für Stil und Wirkung hat sie sich, die gern offensives Rot und hohe Schuhe trug, dennoch behalten. Seit dem Sommer 2015 war Barbara Kisseler neben ihrem Amt als Senatorin auch Präsidentin des Deutschen Bühnenvereins. Und es ist – auch – ihr zu verdanken, dass das Festival Theater der Welt im kommenden Jahr in Hamburg ausgerichtet wird. Neben der endlich greifbaren Eröffnung der Elbphilharmonie, die ausschlaggebend für ihre Bereitschaft zu einer zweiten Amtszeit gewesen sein dürfte, wäre dieses internationale Festival ein Höhepunkt ihrer kulturpolitischen Karriere gewesen.

Längst nicht alle ihrer Termine waren vergnügungssteuerpflichtig. Ging es um die Elbphilharmonie, ging es immer auch um Ärger, Kräche, Geld, Verzögerungen, Schuldzuweisungen und Gegenattacken. Oder alles gleichzeitig. Doch es gab auch den Tag, an dem sie die Plaza präsentierte und strahlte wie frisch verliebt. Und diesen 12. Januar 2015, großer Presseauflauf im Großen Saal, als sie wieder in der Nähe von Olaf Scholz war, neben jenem Bürgermeister, der mit ihr gemeinsam die Neuordnung des Projekts gestemmt hatte. Diesmal freute sie sich still. Aber nach außen.

Einer der letzten öffentlichen Auftritte Barbara Kisselers war die Verleihung des Boy-Gobert-Preises Ende des vergangenen Jahres im Thalia Theater. Es fiel ihr nicht leicht, ans Rednerpult zu gelangen, die Krankheit und der Kampf dagegen waren ihr anzusehen. Darauf angesprochen werden wollte sie allerdings unter keinen Umständen, auch freundliche oder, schlimmer noch, besorgte Bemerkungen von Premierengästen über ihren ihr Mühe bereitenden Gang widerstrebten ihr. Sie konnte sich noch Wochen später darüber empören.

Es spricht für den großen Respekt des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz gegenüber dem Amt und der Person dieser Kultursenatorin, dass er sie in den Folgewochen und -monaten spürbar oft persönlich vertreten hat.

So begehrt die Tickets für das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie am 11. Januar 2017 auch sein mögen – ein Stuhl, ein Ehrenplatz, für alle sichtbar, sollte an diesem Abend frei bleiben.