„Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis beleuchtet in der Reihe „Das Experiment“ alltägliches Verhalten
Im Jahr 1874 schrieb Gottfried Keller seine Novelle „Kleider machen Leute“. Ein Schneider im feinen Zwirn wird darin für einen polnischen Grafen gehalten, man lädt ihn zu sich ein, und alles läuft prächtig, bis der Betrug auffliegt. Was der junge Schneider in dem fremden Städtchen erlebt, ist gewissermaßen der Ausgangspunkt der NDR-Doku-Reihe „Das Experiment“, übertragen auf das Jahr 2016.
In einer belebten Fußgängerzone hat „Tagesschau“-Sprecherin Linda Zervakis mit einem Schauspieler die Reaktion ahnungsloser Passanten getestet, die Zeuge einer Notsituation werden: Ein Mann erleidet einen Herzanfall und sackt auf den Boden. Wer eilt zu Hilfe, wer geht weiter. Und warum?
Die Antworten der befragten Passanten, die entweder geholfen haben oder weitergegangen sind, geben einen guten Eindruck davon, welche Rolle äußerliche Merkmale spielen. Heißt: Kleider machen Leute, und ein feiner Anzug kann durchaus das Leben verlängern. Eine Sozialpsychologin erklärt, dass wir häufig unbewusste Entscheidungen treffen, und sagt: „Diskriminierung im Alltag kommt ständig vor.“ Interessant auch, dass häufig Menschen mit Migrationshintergrund zur Stelle waren, um zu helfen. Linda Zervakis, die Fernsehfrau mit griechischen Wurzeln, fasst in diesem Abschnitt des 45-Minuten-Films zusammen: „Man hat das Gefühl, dass die Welt noch ganz in Ordnung ist. Spätestens nach 20 oder 30 Sekunden war immer jemand da, der helfen wollte.“
Der Rest dieser Reportage befasst sich dann eher mit den Bildungschancen bei ungleicher Ausgangssituation. Hier besucht Zervakis das Elite-Internat Louisenlund, wo die Eltern 30.000 Euro im Jahr hinblättern, um den Nachwuchs gut ausbilden zu lassen – oder zur Vernunft zu bringen. Dabei spielt natürlich die Frage eine Rolle, zu welchen Investitionen eine Gesellschaft bereit ist, wenn es um die Bildung der Kinder geht. In den Stadtteilschulen, die Zervakis im Anschluss aufsucht, wachsen die Bäume jedenfalls nicht in den Himmel. Hier geht es eher darum, Spannungen innerhalb der Klassengemeinschaft auszugleichen. Das Schwierigste, sagt ein Mädchen, das dort das Abitur geschafft hat, sei es, durchzuhalten.
So wie Sean, ein junger Mann, der nach vielen abgebrochenen Versuchen nun eine Ausbildung abschließen will. Nach der Scheidung der Eltern hatte er ständig die Schule geschwänzt, der Mangel an Vorbildern wog schwer. Viele Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen, erklärt der Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani, lernten, „kurzfristig nutzenorientiert zu denken“, und eben nicht, für die eigene Zukunft Perspektiven zu entwickeln, die langfristiges Dranbleiben verlangen.
Zum Abschluss geht es noch darum, wie junge Menschen von anderen eingeschätzt werden. Mitglieder von Personalabteilungen werden befragt, Lehrer, auch Passanten auf der Straße. Das Ergebnis: Ob ein Mensch in einer Hochhaussiedlung oder in einem Einfamilienhaus aufwächst, ob er perfekt Deutsch spricht oder einen begrenzten Wortschatz hat, ob die Eltern Akademiker sind oder Busfahrer – alles schlägt sich nieder im Urteil über ihn. El-Mafaalani weist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Tatsache hin, dass Frauen, ältere Menschen und solche mit ausländisch klingenden Namen bei Bewerbungen bessere Chancen haben, wenn eben diese Infos, sogenannte leistungsunabhängige Faktoren, in den Unterlagen geschwärzt werden.
Natürlich beginnt der Zuschauer, sich im Verlauf der Sendung auch selbst zu hinterfragen: Welche Rolle spielen für mich beim Umgang mit anderen eigentlich das Geschlecht, die Sprachgewandtheit, spielen Herkunft, Hautfarbe und zur Schau gestellte Selbstsicherheit?
„Das Experiment mit Linda Zervakis. Schlägt Herkunft Leistung?“
Mo, 19.9., 21.00, NDRNächste Folge: „Was unsere Körpersprache verrät“, Mo 26.9., 21.00, NDR