Hamburg. Bei einem Vierminutenkonzert im Großen Saal der Elbphilharmonie wurde die Klais-Orgel präsentiert
Einige wenige Töne perlen in den Raum, glöckchenhell, lieblich, klar. Die Musik wird größer, mächtiger. Der Klang auch – und bleibt doch deutlich. Auf der Bühne vor uns, weit entfernt vom Ursprung dieser Tongirlanden über „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, sitzt eine Lettin, spielt Musik eines Letten. Eine Toccata, nicht von Bach oder Reger, von Kalējs. Egal. Die Orgel der Elbphilharmonie lebt.
Über Iveta Apkalnas Kopf schwebt der Reflektor, den der Akustiker Yasuhisa Toyota und die Architekten von Herzog & de Meuron installierten. In ihm versteckt ist das Fernwerk der Orgel, ausgelagerte Special Effects, die dafür sorgen, dass man in Klang gebadet werden kann. So euphorisch und verknallt in seine Berufung nennt der Orgelbauer Philipp C. Klais das, und man ist schwer versucht, es ihm sofort zu glauben.
Jahrelang hatte es dieses Instrument nur auf dem Papier der Planer gegeben, nachdem das gute Stück, weil zu gestrig und zu speziell, ursprünglich gar nicht vorgesehen war. Zwei Millionen Euro des Hamburger Unternehmers Peter Möhrle waren der Geburtshelfer, Hebamme war die damalige Kultursenatorin Karin von Welck. „Wir wollten spenden, dann kam die Orgel auf uns zu, und wir haben sofort zugesagt“, beschrieb Möhrle diese Frühphase des Projekts, als vieles noch ganz einfach schien. Jahrelang plante und konstruierte Klais mit seinen Mitarbeitern in einer Orgelwerkstatt in der Bonner Altstadt. Anfang des Jahres fuhren riesige Lkw auf den Elbphilharmonie-Vorplatz. Endmontage. Stimmen. Fertig. Sogar eine Opuszahl hat das Instrument. 1871.
Fertig. Ein Wort, an das man sich nach anderthalb Jahrzehnten mit einer sehr unfertigen Elbphilharmonie noch gewöhnen muss.
Vor einigen Wochen hatte man sich zuletzt gesehen. Doch seit der Vorstellung der „Weißen Haut“ hat sich der Große Saal schon wieder, noch einmal, zum wohl letzten Mal, vor seiner Belebung mit Musikhungrigen und Neugierigen mächtig verändert. Damals durfte man nicht von der Bühne in die Sitzreihen wandern, weil überall manisch gearbeitet wurde, um den Übergabetermin zu erreichen. Nun darf man, zumindest in einige. Aber: Erinnerungsfotos nur für den privaten Eigenbedarf! Allzu groß sollen die Einblicke ins grandiose Ganze vor der Zeit nicht sein. Die Uhr läuft immer noch. Sie rast immer noch.
Ein interessantes, für den Detailwahnsinn dieses Projekts typisches liebes Bisschen: Sogar die Wand vor dem Spieltisch ist mit „Weißer Haut“ vertäfelt, falls sich dorthin, am Organisten vorbei, Schallwellen verirren sollten, deren Wichtigkeit für den Gesamteindruck man ja nicht unterschätzen darf.
Für Klais ist dieser Raum ein „Saal, der die Musik neu zugänglich macht“; über die berühmt-berüchtigten Verzögerungen war er nicht erfreut, es war aber auch „sehr schön, dass wir mehr Zeit hatten, um über jedes Detail zu ringen“. Vor lauter Begeisterung ist ihm entfallen, wie viele Pfeifen genau in Opus 1871 stecken (4765). Er schwärmt von der „im Kern romantischen Orgel“, vom Baden im Klang. Und: „Für mich gibt es hier überhaupt keinen schlechten Platz.“ Diese Einschätzung kursiert durch die Szene, seit das NDR Elbphilharmonie Orchester Anfang September hinter streng verschlossenen Türen zwei Tage lang vor streng abgezählten Augen- und Ohrenzeugen probte. Auch Apkalnas Gesichtsausdruck erinnert an den eines Kinds, das sich in der Süßwarenabteilung einschließen ließ: „So eine Konzertsaalorgel habe ich noch nie erlebt“, jubiliert sie und legt mit „Orgelmusik ist die Architektur des Himmels“ noch nach. Generalintendant Christoph Lieben-Seutter erinnert daran, dass sowohl Rihm als auch Widmann bei ihren Uraufführungen für die ersten Konzerte im Januar die Orgel in ihre Partitur fest einkalkuliert hätten.
Nachdem alles Amtliche gesagt ist, geht es aus der Orgelsektion nach gegenüber, Block K. Hörprobe, wenige Minuten nur, und auch nur von einer Position aus, aber: Besser als nichts und weiter warten. Viel besser als nichts und weiter warten. Die Beschriftungen auf dem Boden, das Leitsystem – schon da. Die Sitze, made in Italy, spezialgefertigt – schon da. Es ist dieser Moment, wenn man in ein noch ofenwarmes Auto einsteigt, alles frisch riecht und so lecker, dass man von den Fußmatten essen möchte. Freie Sitzwahl in leeren Reihen. Ein Luxus, der sehr selten sein wird. Erste Reihe Mitte. Passt auf Anhieb. Über einem leuchtet strahlend blau das Oberteil des Reflektors. Bevor es losgeht, bleibt noch Zeit für geflüsterten Blödsinn. Ist Wunschkonzert? Dann hätte ich gern „Dancing Queen“. Wie als Teenager im Kino, bevor das Licht verlöschte und die Welt eine andere wurde.
Nach den vier Minuten mit Apkalna und der Orgel hat der Alltag einen wieder. Auf der Bühne werden Erinnerungsfotos fürs Projektfamilienalbum gemacht. Draußen vor der Tür, auf dem Weg zum Pförtner-Container, geht eine Reinigungskraft mit Staubsauger. Ein liebenswürdiges Momentbildchen. Kurz noch mal saugen, feucht durchwischen, dann: fertig. Vier Monate, mehr nicht.