Hamburg . Eine Fotoausstellung im Museum für Kunst und Gewerbe gibt Einblicke in den Hamburger Alltag des frühen 20. Jahrhunderts.
Ein eindrückliches, ein typisches Bild: Das kleine Mädchen mit den schmutzigen Wangen trägt ein paar Rüben, die es aus der Erde eines riesigen Feldes gezogen hat. Gegen vier Uhr morgens mussten solche Kinder um das Jahr 1900 herum oft aufstehen. Sie arbeiteten dann auf dem Feld, bis die Schule losging und nach der Schule bis zum Einbruch der Dunkelheit. So beschrieb es Konrad Agahd 1902 in seinem Buch „Kinderarbeit und Gesetz gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeitskraft in Deutschland.“
Julius Hamann und sein Sohn Heinrich unterhielten zu jener Zeit ein Fotoatelier in der Hamburger Neustadt, und von dort aus übernahmen sie „Fotografie aller Art“, also auch von der Landarbeit, in Manufakturen, Kontoren und eben Turnvereinen. Aus dem angesammelten Material hat Fotografiehistorikerin Teresa Gruber gemeinsam mit Fotokuratorin Esther Ruelfs im Museum für Kunst und Gewerbe eine kleine, vielfach auch vergnügliche Ausstellung konzipiert, die Freizeit und Arbeit um 1900 einander gegenüberstellt, angereichert mit vielen interessanten Hintergrundinformationen. Hierfür konnte aus dem Vollen geschöpft werden, denn die 2400 Fotos aus dem Nachlass der Fotografen Hamann sind im Besitz des Museums.
Ob es nun Arbeiter oder Kontorangestellte sind, die nach Feierabend im Turnverein St. Pauli die Beine übers Reck schwingen, ist nicht mehr genau auszumachen. Tatsache aber ist, dass sich verschiedene Hamburger Organisationen 1862 zum Hamburg St. Pauli Turnverein zusammentaten, für den sie an der Feldstraße eine Turnhalle errichteten. Der Turnverein war unter anderem aus dem Arbeiterbildungsverein hervorgegangen. „Nicht nur um des äußeren Scheins messen wir Kräfte, spannen wir die Sehnen, sondern nur das eine Ziel, gesunde, kraftvolle Menschen zu bilden, ist unser Leitmotiv“, so steht es in der Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestehens.
Hamanns Fotos zeigen nun eine ganze Reihe unfreiwillig komischer Aufnahmen junger Männer und Frauen bei der körperlichen Ertüchtigung. Diese Aufnahmen waren unter anderem bei den Hamanns in Auftrag gegeben worden, um das Buch „Der Vorturner“ zu bebildern. Turner, die vom Bock springen, andere, die gute Figur am Reck machen oder Hilfestellung leisten. Im Sommer turnten die Eifrigsten sogar unter freiem Himmel auf dem Heiligengeistfeld, wo Recks aufgestellt wurden und Ballspiele für die züchtig gekleideten Damen stattfanden. Hier sehen wir beispielsweise einen Mann, der wie ein Artist Handstand auf der Reckstange praktiziert und dafür nur eine Hand benutzt. Zu sehen sind auch Damen mit langen, wohlanständigen Matrosenkleidern und Hüten, die artig im Halbkreis stehen und einen Ball in die Luft werfen. Von der „Schwedischen Gymnastik“ in Pumphosen an der Sprossenwand ganz zu schweigen.
Fotos zeigen: Großraumbüros gibt es schon sehr lange
Theodor W. Adorno schrieb später kritisch über derlei Freizeitbeschäftigung der arbeitenden Bevölkerung, es handele sich um den „Zwang, sich zu zerstreuen und zu erholen, als ein Teil der Notwendigkeit, die Arbeitskraft wiederherzustellen, die sie in dem entfremdeten Arbeitsprozess verausgabten“.
Die Landarbeiter, die den ganzen Tag auf Knien durch die Ackerfurche zogen, um Rüben oder Kartoffeln zu ziehen, wie es ein Foto zeigt, werden wohl kaum nach Feierabend zum Turnen gegangen sein. Eher schon die, die in den Fabriken oder Manufakturen arbeiteten, den ganzen Tag Dosen aus Blechstreifen herstellten oder Lampen zusammenbastelten. Die Fotos aus der Arbeitswelt zeigen auch, dass Großraumbüros ein alter Hut sind und es sie sogar schon im 19. Jahrhundert gab: Die Schreibtische der Angestellten des Hauptkontors der GEG stehen dicht an dicht, auf jedem thronen eine mechanische Schreibmaschine und ein Telefon. Wie gut, dass 1907 das Ohropax erfunden wurde. Interessant: das Kürzel GEG steht für Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine, die den Zweck verfolgte, die Arbeiter mit günstigen Waren zu versorgen – im Grunde die Vorläufer der heutigen Discounter.
Sehr amüsant ist eine Serie von 1904 mit dazugestellten Knittelversen von Rudolf Gasch. Eigentlich ging es darum, mittels der Aufnahmen anschaulich zu zeigen, wie man auf dem Pferd turnt. Zu diesem Thema trieben Gasch und Fotograf Hamann dann allerlei literarisch inspirierte Scherze. So zeigen Hamanns Aufnahmen etwa Don Quijote und Sancho Pansa als Deppen-Duo oder zwei kostümierte Turner, die darstellen, wie der Ritter St. Georg den sagenumwobenen Lindwurm besiegt. Da heißt es dann: „Das nächste Bild ist nicht zum Lachen, denn wer kämpft schon gern mit einem Drachen?“
„Arbeit/Freizeit bei J. Hamann“ bis 6.11. Museum für Kunst und Gewerbe (U/S Hbf.), Steintorplatz 1, Di–So 10.00–18.00, Do bis 21.00, Eintritt: 12, erm. 8 Euro.