Hamburg.

    Zwei Tage, die mit Musik von Brahms prall gefüllt sind, stehen unter der musikalischen Leitung von NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock auf dem Musikfest-Programm. Ein Unterfangen, das im normalen Konzertbetrieb keinen Platz hätte, mit den vier Sinfonien im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

    Abendblatt: Herr Hengelbrock, warum alle vier auf einmal?

    Thomas Hengelbrock: Ich fand es spannend, einmal zu Brahms nach Hause zu kommen. Uns gleichsam in seinem Haus zu bewegen, vom Dach bis in den Keller.

    Wie spiegelt sich Brahms’ kompositorische Entwicklung in den Werken?

    Hengelbrock: Sie sind Ausdruck ihrer Entstehungsgeschichte. Die Sinfonien sind paarweise entstanden.

    Die Erste hat er erst 1877 vollendet, da war er schon Mitte 40.

    Hengelbrock: Brahms hat mindestens 15 Jahre mit ihr gerungen. Er hörte die Schritte des Riesen hinter sich, Beethovens Schritte. Und man glaubt sie bei den Paukenschlägen am Anfang der Ersten wirklich zu hören. Die Erste ist an der Grenze zur Über­in­strumentierung. Man spürt das Ringen des Komponisten.

    Und dann die sommerliche Zweite!

    Hengelbrock: Nach dem dunklen und schicksalhaften c-Moll der ersten Sinfonie löst sich in der zweiten die Anspannung. Als hätte er sich von einer großen Last befreit, bricht sich eine ungeheure Spielfreude Bahn. Es ist sehr schön zu sehen, dass auch ein grüblerischer Komponist wie Brahms so einer Stimmung nachgibt.

    Danach pausiert er sechs Jahre lang ...

    Hengelbrock: ... und dann schreibt er eine dritte Sinfonie. Die Dritte ist sehr schwungvoll, sehr fein verwoben. Sie endet sanft, fast scheint es, dass sich der Melancholiker Brahms mit der Welt versöhnt hat. Aber dann kommt der große Schock. Die Vierte ist für mich eine der großartigsten Schöpfungen der Sinfoniegeschichte. Er lotet Ausdrucksbereiche aus, die er in den ersten drei Sinfonien nicht durchschritten hat. Die Variationen des letzten Satzes scheinen mir für bestimmte Lebensabschnitte zu stehen, fast wie ein Resümee. Das entfaltet einen ungeheuren Sog – bis zum Schluss, wenn alles hinunterstürzt.

    Wie haben Sie sich den vier Sinfonien genähert?

    Hengelbrock: Es gibt Mitschriften aus Proben in Meiningen, aus denen beispielsweise Brahms’ Vorstellungen zu Tempo und Ausdruck der Stücke hervorgehen. Mit solchen Dingen beschäftige ich mich. Ich versuche, durch genaues Quellenstudium den Grad der Willkürlichkeit ein bisschen einzugrenzen. Das bin ich dem Komponisten schuldig. (vfz)