Hamburg. Am Freitag erscheint Udo Lindenbergs neue Platte „Stärker als die Zeit“. Er spielt in Stadien, ist angesagter denn je – und wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Panik? Nicht die Spur

Es geht auf Mitternacht zu, als sich die Flügeltüren zu einem der Gesellschaftsräume im Hotel Atlantic öffnen. Klar, Udo Lindenberg ist Langschläfer, entsprechend spät kann es dann mit Interview-Terminen werden. Aber als höflicher Gastgeber sorgt der Panik-Rocker für Bier und Eierlikör (für den Reporter) und lümmelt sich in einen der beiden Stühle. Die dicke Montecristo No. 3 tanzt zwischen den Mundwinkeln, als er über sein neues Album „Stärker als die Zeit“ und den Rock ’n’ Roll an sich spricht.

Hamburger Abendblatt: Herr Lindenberg, sind Sie der letzte Rock ’n’ Roller?

Udo Lindenberg: So richtige Larry-Rock-’n’-Roller gibt es ja kaum noch. Konsequente Rebellion und Attacke? Krasses Leben? Politische Haltung? Dafür müssen die Bübchen von heute ihr Leben in den Dienst des Rock ’n’ Roll stellen, aber wer macht das noch?

Na Sie. „Einer muss den Job ja machen“, wie Sie singen.

Lindenberg: Natürlich gehören auch Klischees dazu. In dem Lied geht es ja nicht nur um mich, sondern auch um andere Rock ’n’ Roller, die ich hier im Hotel beim Absturz bis zur Blutwäsche beobachtet habe.

Motörhead-Lemmy, Prince und David Bowie sind gerade auf die andere Seite gegangen. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass es leerer um sie herum wird?

Lindenberg: Ja klar. Das war sehr schockierend, als sie gegangen sind. Vorausgegangen sind. Und wenn ich noch daran denke, dass die Jungs in meinem Alter waren ... Ich dachte, ich haue mit 50 ab bei meinem Lebensstil. Jetzt werde ich 70, das finde ich schon sehr erstaunlich. Wohlgemerkt 70 nach irdischer Zeitrechnung. Da, wo ich herkomme, herrscht eine andere Zeitrechnung, da ist Bob Dylan noch jung, Led Zeppelin rockt, und die Hippies wollen noch die Welt verändern. Make love, not war.

Sie versprechen im Alter von 69 als selbst ernannter „Dr. Feelgood“ noch „kistenweise Libido“?

Lindenberg: 69 ist ja nun wirklich offensichtlich das beste Alter für Sex und Rock ’n’ Roll. Eierlikör hat ja auch seine Wirkung.

Im deutschen Pop gibt es einen auffälligen Hang zur introvertierten Romantik. Die Welt will keiner mehr verändern, der große Traum ist eine Altbauwohnung, Küche, Bad und ‘n kleiner Balkon.

Lindenberg: Man fühlt sich da tatsächlich ein bisschen alleine jetzt. Früher haben sich Bands versammelt bei Live Aid, beim Nelson Mandela Tribute Concert oder Rock gegen Rechts. Viele junge Bands sind sehr zahm, unterwerfen sich einer Vorzensur, um unbedingt im Radio gespielt zu werden und haben Angst, sich klar und politisch zu positionieren.

Fehlt denen Ihre Extrovertiertheit?

Lindenberg: Die sind eben die milde Sorte.

Fühlen Sie sich allein? Was ist „Der einsamste Moment“ im gleichnamigen Lied?

Lindenberg: Der einsamste Moment ist der Punkt, an dem man innehält, alles zurücklässt, was einen aufhält. Beim Konzert im Berliner Olympiastadion letztes Jahr war das der Anfang der Show, da hing ich 60 Meter hoch über 50.000 Menschen, keine Funkverbindung mehr zu Houston Ground Control. Ganz einsam. Und da schaute ich hoch in die dunklen Wolken. „Bitte, kein Regen“, dachte ich. Und da sah ich hinter den Wolken meine Eltern, Hermine und Gustav, und wir waren uns einig: „Komm, wir ziehen die Scheiße gemeinsam durch.“ Plötzlich brach die Sonne durch das Grau, und ich bekam nasse Augen.

Viele ihrer Zeitgenossen wie Nena oder Westernhagen haben in den letzten Jahren exklusive Clubkonzerte gegeben. Wäre das auch etwas für Sie? Oder bleibt es bei Stadien?

Lindenberg: Stadion ist für mich der große Kick, das begann ja erst letztes Jahr im wilden Westen in Düsseldorf und im wilden Osten in Leipzig. Und jetzt geht es das erste Mal in den hohen Norden nach Hamburg.

„Wenn die Nachtigall verstummt“, wenn Udo zu Lemmy und Bowie stößt, wer soll die Fackel dann übernehmen? Benjamin von Stuckrad-Barre scheint ja eine Art Ziehsohn von Ihnen zu sein, wenn man sein Buch „Panikherz“ entsprechend interpretiert.

Lindenberg: Benjamin ist ein großer und ein kleiner Bruder, immer abwechselnd. Er hat mich auch schon aus der Patsche gezogen und seine schmalen Krawatten an meine Hoteltür gehängt, als ich sehr breite Zeiten hatte. Und ich hab ihm geholfen und auch dazu inspiriert, jetzt endlich mal sein Buch zu schreiben. Wir sind uns sehr ähnlich.

Rastlos?

Lindenberg: Ich bin kein Getriebener, aber ein Suchender, ein Entdecker und Pionier wie meine Kollegen James Cook und Vasco da Gama. Wir sind beide sehr weit herausgeschwommen, ich im Whiskey-Ozean und Benjamin im Meer anderer Stoffe, um an Orte der Inspiration und Erleuchtung zu gelangen – und dann zu merken, dass man doch nur wie Faust in Auerbachs Keller gelandet ist. Trotzdem haben wir immer noch das Visum für unbekannte Länder in der Tasche.

Aber sind Exzesse im fortgeschrittenen Alter immer noch ein Thema? Nutzt sich das nicht ab?

Lindenberg: Nein, meine Stimme ist jetzt viel autorisierter, über Exzesse zu singen als vor 20 Jahren. Die Stimme ist ja die Visitenkarte der Persönlichkeit, einer geschundenen Seele mit viel Patina, die viel überlebt hat. Das Orchester in London, das arbeitet normalerweise mit richtigen Sängern. Und ich bin kein Sänger, ich hatte keine Minute Gesangsunterricht. Und als die mich hörten, meinten die nur: „Was ist denn das für eine Stimme? Von welchem Planeten kommst Du denn?“

Sie haben „Stärker als die Zeit“ mit einer Ausnahmegenehmigung auf die berühmte „Der Pate“-Melodie gesungen, aufgenommen in den Abbey Road Studios. Wie wollen Sie da noch einen draufsetzen?

Lindenberg: Vielleicht eine internationale Karriere starten? Als junges Talent kurz vor 80 zum Weltstar werden.

Oder irgendwann doch noch beim Eurovision Song Contest teilnehmen?

Lindenberg: Nääääh.

Album (Warner) ab 29.4. im Handel; Konzert: Sa 11.6., 20.00, Volksparkstadion, Karten ab 38,- bis 91,50 im Vorverkauf; www.udo-lindenberg.de