Hamburg/Berlin. Ein Hamburger zieht mit bürgerlicher Familie in den Berliner Problembezirk Neukölln. Und macht überraschende Erfahrungen
Am Anfang hatte Thomas Lindemann eine Geschäftsidee: Petersilie im arabischen Gemüseladen in Neukölln kaufen und sie für das Doppelte in Prenzlauer Berg verkaufen. War natürlich ein Quatsch-Gedanke, der in Hamburg zum Beispiel mit Altona-Nord und Ottensen funktionieren könnte. Er beschreibt ganz gut, wieso Lindemann mit seiner Familie vom gentrifizierten Berliner Bezirk ins bundesweit als kriminell verschriene Neukölln ziehen musste.
Thomas Lindemann lebt, wo Kioske mit Schrotflinten überfallen werden
„Eigentlich haben wir nichts zu beklagen, gehören zur gebildeten Mittelschicht, aber als Freiberufler mit drei Kindern konnten wir 18 Euro kalt pro Quadratmeter nicht zahlen.“ In den „sozialen Abstieg“ getrieben, wie der in Pinneberg geborene Lindemann provokant sagt. Aus der Blase gekickt, in die man ohne den sündhaft teuren Bugaboo-Kinderwagen ohnehin nicht gehört. In Neukölln wohnen sie nicht im hippen Teil, wo stellenweise auch schon glatt gebügelt wurde. Sie leben da, wo Kioske mit Schrotflinten überfallen werden.
Über seine neue Heimat hat Lindemann, der in Hamburg Psychologie studiert hat, nun ein Buch geschrieben. „Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche!“ heißt seine Stadtreportage. In der beschreibt er seine Erlebnisse und trifft Protagonisten des Viertels, mit denen er versucht, den Bezirk abzubilden. Wobei das natürlich immer nur ein Ausschnitt sein kann.
Lindemann erinnert sich an die Zeit vor dem Umzug: „Viele haben total entgeistert reagiert: ‚Mach das nicht – nicht mit Kindern!‘“ Richtige Warnungen waren das. Aber klar, da ist ja auch die Rütli-Schule mit all den brutalen Geschichten. Über 50 Prozent sind Migranten. Fast die Hälfte lebt von Hartz IV. Ihn hat diese Engstirnigkeit der „weißen Mittelschicht“ trotzdem genervt, auch wenn er nicht wusste, wie groß der Kulturschock sein wird.
Ein spontaner Blick in die lokalen Nachrichten zeigt, dass gerade wieder ein 26-Jähriger tot aufgefunden wurde. „Versuchter Mord?“, titelte der Boulevard. Außerdem hat der Bezirk wieder verkündet, verstärkt gegen Jugendkriminalität vorzugehen. „Es gibt hier auch mal Leute mit Macheten, und in der U-Bahn soll Heroin verkauft werden“, sagt Lindemann. „Natürlich lasse ich meine Kinder nicht so gerne im Dunkeln alleine raus.“ Die Reflexionsebene mit Kindern sei ohnehin eine andere. „Man muss darüber nachdenken, wie man Konflikte löst, wie man einem Achtjährigen erklärt, dass nicht ‚alle Türken scheiße‘ sind und wieso an jedem zweiten Baum ein Sofa steht.“
In Prenzlauer Berg war es symbiotischer: „Alle bio, grün, pro Flüchtling.“ Heute glaubt er, dass sie das nur so lange seien, bis es sie selbst betrifft. „Wenn es also darum geht, dass Ausländer, Hartz-IV-Empfänger oder Alkoholiker in ihre stilvolle Enklave treten, sind sie gar nicht mehr so links-liberal“, sagt Lindemann. Aber dort wird man damit ja gar nicht erst konfrontiert.
Das Grundproblem sei, dass sich nichts mischt: „Da ist Emil auf der einen Seite und Mohammed auf der anderen.“ Auch das habe Lindemann erst bemerkt, als er aus der Wohlstandsblase rausmusste, seit seine Kinder mit den blonden Locken auffallen und es Schulklassen gibt, in denen Schüler kein Deutsch sprechen. Was da ungünstig sei, ließe im Alltag interessante Begegnungen stattfinden. „Man durchbricht Schichten, auch wenn man nur mit Händen und Füßen redet.“ Das ist es, was auch Deutschland immer mehr prägt. Mischung, Integration, Zusammenleben verschiedener Kulturen.
Der Berliner Stadtteil Neukölln ist eine Skizze der Zukunft des Landes
Ex-Bürgermeister Heinz Buschkowsky schrieb schon 2012: „Neukölln ist überall.“ Der Berliner Stadtteil ist eine Skizze der Zukunft des Landes, findet der Autor. „Es hat Menschen aus fremden Ländern aufgenommen, jetzt muss man über die Integration nachdenken.“ Mit Initiativen und Dialogen. Der allgemeine Austausch sei übrigens viel größer als im Prenzlauer Berg. „Hier ist das Engagement wichtig, um Verwahrlosung aufzuhalten und keine Gettos entstehen zu lassen.“ Das ist nicht durchweg gelungen. Neukölln aber sei auch ein Modell für Deutschland im positiven Sinn: „Alle schwärmen von China Town oder Little Italy. In Neukölln gibt es die arabische Meile auf der Sonnenallee.“
Hauptsache, die Kinder sagen nicht irgendwann „isch“ statt „ich“.
„Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche!“, Thomas Lindemann, 224 S., Berlin Verlag, 14,99 Euro