Hamburg. Mitsuko Uchida hat zwölf Konzertflügel für die Elbphilharmonie getestet – fand aber kein für den großen Saal geeignetes Instrument.
Die Pianistin steht im Brennpunkt. In der Mitte der Bühne kreuzen und bündeln sich die Blickachsen, die Aufmerksamkeit, die multiplen Energien im Saal. Jetzt ist das schon spürbar, an einem Märztag fast zehn Monate vor der geplanten Eröffnung der Elbphilharmonie, zwischen Plastikplanen, Gerüsten und einem immensen Rüssel, der über der Bühne von der Decke hängt. Die schmale Frau legt den Kopf in den Nacken und lässt den Blick über die geschwungenen Balkone mit der grau-rauen Oberfläche gleiten, entdeckt weit oben die Orgel, scheint die Raumhöhe abzuschätzen. „Sehr interessant“, sagt Mitsuko Uchida schließlich in unverkennbar wienerischem Tonfall. „Da muss ich mal den Yasi fragen, wie der das macht.“
Der Yasi, das ist Yasuhisa Toyota, der Chefakustiker der Elbphilharmonie. Uchida konzertiert in den Sälen der Welt, die seine Handschrift tragen, von Tokio bis Paris und von St. Petersburg bis Los Angeles. Generalintendant Christoph Lieben-Seutter kennt sie noch aus seiner Zeit am Wiener Konzerthaus. Nach Hamburg hat er sie für ein ganz besonderes Projekt eingeladen: Sie soll Konzertflügel für die Elbphilharmonie aussuchen.
Die 68-Jährige ist nicht nur seit Jahrzehnten ein Fixstern am Pianistenhimmel, sie ist auch bekannt für ihre klangliche Sensibilität und ihren hohen Anspruch an die Instrumente. Auch für das Leipziger Gewandhaus oder das Konzerthaus von Cleveland hat sie schon Flügel ausgesucht.
Drei Instrumente soll Uchida aussuchen, jedes rund 150.000 Euro teuer
Im Fall der Elbphilharmonie ist die Aufgabe besonders heikel, denn eine Klangprobe ist im Großen Saal noch nicht möglich. Die Akustik bestimmt über die klangliche Wirkung eines Instruments aber maßgeblich mit. Weil der optische Eindruck immerhin besser ist als nichts, steht Uchida nun da mit Helm, gelben Gummistiefeln und einer Atemschutzmaske gegen den Baustaub. „Ich kann mir ein bisschen vorstellen, wie dieser Saal klingen wird“, sagt sie. „Toyotas Säle haben eine gewisse Durchsichtigkeit und Balance.“
Drei Instrumente soll sie aussuchen, in D natürlich, der Flaggschiffgröße von Steinway, jeder 2,74 Meter lang und rund 150.000 Euro teuer, Mehrwertsteuer inbegriffen. „Wir suchen einen sehr brillanten Flügel für das virtuose Repertoire“, sagt Lieben-Seutter. „Dann einen, der groß klingt, aber ein bisschen wärmer ist, für Solokonzerte mit Orchester, und schließlich einen für Kammermusik und Liedbegleitung, der eher im Kleinen Saal zu Hause ist.“ Dass es Steinway sein muss, liegt nur zum kleinsten Teil daran, dass die europäische Dependance des amerikanischen Unternehmens ausgerechnet in Hamburg-Bahrenfeld steht. „Steinway ist der Goldstandard“, sagt Lieben-Seutter. Damit fasst er gleich zwei Phänomene in ein Wort. Erstens: Steinway ist qualitativ spitze, sonst würden nicht die weitaus meisten Pianisten für ihre Tourneeauftritte auf der Marke bestehen, nämlich nach Lieben-Seutters Erfahrung mehr als 90 Prozent. Und zweitens: Steinway ist eben Standard. Es gibt natürlich auch andere Hersteller wie den traditionsreichen Bösendorfer oder den sagenumwobenen Fazioli; im asiatischen Raum ist Yamaha stark vertreten.
„Aber meist sagen die Künstler doch: Ich muss mich auf meine Höchstleistung konzentrieren und will nicht auch noch den Stress, mich auf eine ungewohnte Klaviermechanik einzustellen“, sagt Lieben-Seutter.
Bei Mitsuko Uchida ist es nicht Pragmatismus, sondern Liebe. Während sie durch die Gänge des Steinway-Hauses läuft, spricht sie von ihren eigenen vier D-Flügeln, als wären es Kinder, jedes mit verschiedenen Charakterzügen und jedes auf seine Weise zuwendungsbedürftig. Nach einem kurzen Kaffee ist die Künstlerin schon im Auswahlsaal verschwunden, in dem zwölf schwarzglänzende Flügel aufgereiht stehen. Passagen von Schumann, Beethoven oder auch Bartók wehen durch den Raum, aber lange hält es Uchida bei keinem der Werke und auf keinem der zwölf lederbezogenen Klavierhocker. Jedes Mal springt sie wieder auf wie ein junges Mädchen, geht zum nächsten Instrument und versinkt dort wieder augenblicklich, kerzengerade sitzend, in tiefste Konzentration.
Schon ihre grazilen und gemessenen Bewegungen und ihr Sprechtempo verraten ihre reiche Bühnenerfahrung. „Dieser hier hat Potenzial“, murmelt sie und wiederholt einen Akkord in der Mittellage, dann hält sie inne, „aber hier müsste man etwas ändern, da stimmt etwas nicht.“ Während Uchida die Instrumente ausprobiert, spricht sie zu dem Techniker Georges Ammann. Man spürt die jahrelange Vertrautheit der beiden, Ammann hat gerade eins von Uchidas Schätzchen zur Überarbeitung da. Bei jedem Flügel sagt sie einen Satz in seine Richtung: „Er knallt hier oben“, sagt sie etwa und spielt eine Girlande ganz rechts auf der Tastatur. Oder, nach einer Folge von Forte-Schlägen: „Ich muss mit viel Gewicht spielen.“ Oder: „Ich finde es schwierig, die Klangfarben zu ändern.“
Wenn es um Klavierklang geht, kann das Vokabular schon mal ähnlich esoterisch werden wie bei teuren Weinen. Aber dazu ist an diesem Nachmittag wenig Gelegenheit. Der eine Flügel mag in der Mittellage etwas dunkler, erdiger klingen und der andere in der Höhe schriller. Aber wesentliche Charakterunterschiede sind nicht auszumachen. „Es ist, als ob sie alle geschminkt wären“, sagt sie. „Sie sind so extrovertiert.“ Einige Klavierdeckel hat Uchida schon im ersten Durchgang zugeklappt. Sie pendelt zwischen Nummer drei und Nummer eins hin und her, dann holt sie Luft und sagt: „Wenn ich den richtigen Flügel habe, weiß ich das sofort! Dann kommt die Musik zu mir. Aber so verloren wie heute war ich noch nie bei einer Klavierauswahl.“
Ein Flügel für einen großen Saal wie den der Elbphilharmonie muss die Kraft haben, sich gegen ein großes Orchester zu behaupten, und trotzdem klanglich variabel bleiben. Wie man die Balance erreicht, bleibt im Kern ein Geheimnis. Schließlich besteht ein Flügel zu großen Teilen aus Holz oder Filz oder anderen Naturmaterialien. Kein Wunder, dass jeder anders klingt. Kein Wunder, dass Uchida die zwölf Kandidaten „junge Instrumente“ nennt.
Natürlich entwickelt sich ein Flügel mit den Jahren. „Bei meinem Flügel ändern sich die Farben mit den Harmonien“, sagt Uchida. „Manche Instrumente machen das sogar schon, wenn sie geboren werden.“ Der Betriebsleiter Rudolf Wyrsch erläutert die Kriterien, nach denen sein Team die Vorauswahl getroffen hat: „Wir haben Flügel ausgesucht, die in einem großen Saal überzeugen können.“ – „Aber wenn ein Flügel nur laut ist, dann ist das, als ob ein Schauspieler nur schreit“, wendet sie ein. „Kann es sein, dass es an der Regulierung liegt?“ Wyrsch zieht die Tastatur aus einem der Flügel heraus. Er und Uchida beugen sich über die Mechanik wie über einen Patienten und begutachten die Hämmer.
Die Regulierung oder auch Einstellung ist die angewandte Kunst der Klaviertechnik. Es reicht nicht, ein sehr gutes Instrument zu bauen. Jeder Pianist hat seine eigenen Klangvorstellungen. Der eine will den Klang brillanter, der andere erklärt kurz vor Konzertbeginn, so könne er auf keinen Fall spielen. Dann setzt der Konzerttechniker die Stoßzunge weiter nach vorn oder variiert die Geschwindigkeit der Herzfeder, um nur zwei der 12.000 Bauteile eines Flügels zu nennen.
Im Sommer kommt Mitsuko Uchida wieder. Neue Flügel testen
Was Uchida unter Farbigkeit des Klanges oder auch unter Beweglichkeit versteht, möchte sie an ihrem eigenen Flügel demonstrieren. So zieht die Entourage mit ihr ins Souterrain zu den Werkstätten. Das Instrument, gebaut Ende der 80er-Jahre, steht in einem Raum kaum größer als eine Garage. An den Wänden Isolierschaumstoff und daneben der Grundriss eines Flügelkorpus, im Werkzeugregal herrscht peinliche Ordnung.
Uchida klappt den Deckel auf und bringt die Finger über die Tasten, schließt die Augen, ein Ausdruck banger Erwartung gleitet über ihr Gesicht. Sacht, sehr sacht senkt sie die Hände. Es scheint eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis die Finger die Tasten erreichen, bis die Berührung Klang wird. Und da ist er, der nach innen leuchtende E-Dur-Zauber des Largo aus Beethovens 3. Klavierkonzert. Eine solche Farbe hat Uchida im Auswahlsaal vergeblich gesucht. „Ich bin trotzdem zufrieden“, sagt Christoph Lieben-Seutter. „Wir wollen die bestmöglichen Flügel für die Elbphilharmonie. Für die beste Lösung braucht es manchmal Umwege. Wir stehen nicht unter dem Druck, jetzt eine Auswahl treffen zu müssen. Ich bin mir sicher, dass wir am Ende Flügel finden werden, die uns alle begeistern.“
Und Uchida? Die nimmt sich die Zeit. Im Sommer kommt sie wieder. Bis dahin laufen bei Steinway noch viele Flügel vom Band. Jeden Tag werden sechs oder sieben fertig, da werden sich genügend Kandidaten finden.
Zur Belohnung darf Uchida den ersten Klavierabend in der Elbphilharmonie geben. Irgendwann nach dem 11. Januar 2017 wird sie wieder im magischen Auge des Saals stehen, ohne Bauhelm, vor Publikum. Und sich dann ans Instrument setzen.