Hamburg. Julia Jost lässt den Zuschauer in ihrer Version von Thomas Melles „3000 Euro“ im Thalia an der Gaußstraße unbeteiligt zurück

Die gigantische Schwanskulptur füllt, als wäre sie eben bruchgelandet, fast die ganze Garagenhöhe des Thalia in der Gaußstraße aus. Wie ein gefallener Vogel fühlt sich auch der obdachlose Anton. Aus dem System gefallen, versehrt, verschuldet und auch in der Liebe ungelenk, also insgesamt „im Papierkorb Gottes“ gelandet.

Das verbindet ihn mit der Supermarktkassiererin Denise, alleinerziehende Mutter eines entwicklungsverzögerten Kindes, die ihr schmales Gehalt mit Pornodrehs aufpoliert und jetzt an der Kasse bei jedem männlichen Kunden Wiedererkennen befürchtet. Mit seiner böse treffenden Verliererparabel „3000 Euro“ hat der Berliner Schriftsteller Thomas Melle 2014 einen Hit gelandet, Buchpreisnominierung inklusive.

Es könnte eine dankbare Aufgabe sein, dieses Gesellschaftspanorama über die bitteren Realitäten des modernen Dienstleistungsprekariates auf die Bühne zu bringen. Die junge Regisseurin Julia Jost, bislang mit Projekten und szenischen Einrichtungen am Thalia Theater vertreten, versucht es mit viel indirekter Rede und wenig Dialogen, mit eingestreuten Liedern und einer nicht immer konsequenten surrealen Schwan-Traum-Szenerie (Bühne: Sammy Van den Heuvel). Großartige Darsteller hat sie auch, und doch bleibt der Abend so flügellahm wie der liegende Vogel. Es häufen sich Verschleppungen, Leerstellen, zu oft hängt der dramaturgische Bogen durch. Es geschieht ja auch nicht viel, aber eben doch Ungeheuerliches: Eine Liebe zwischen den verlorenen Seelen Anton und Denise bahnt sich an. Er findet sie auf prollige Weise hübsch, sie sagt sich: „Ein Verrückter also, mehr nicht. Ein Anton.“ Und doch mag sie ihn. Die Liebe kann aber in einer verrohten Welt keine Erfüllung finden. Anton, der durch ein nicht genau benanntes Ereignis aus der Spur gerät und nicht mehr in sie zurückfindet, könnte jeder von uns sein. Mit dieser Abstiegsangst der Mittelschicht spielt Melle in seinem Roman raffiniert.

Patrick Bartsch ist als Anton mit strähnigen Haaren im Pastellanzug ein verhaspelter, fahriger und zerfaserter Mensch. Auf die Exzesse am Rande einer Beinahe-Karriere als hochbegabter Jurist folgen Konten im Minus und aufgeflogene Kreditkarten. Jetzt droht wegen 3000 Euro ein Gerichtstermin. Permanent gedemütigt und gegängelt von der Umwelt, ist Anton längst Zaungast seines Schicksals. Seltsam verloren wirkt sein Darsteller Bartsch in der Inszenierung. Man schaut dem Ausstieg Antons aus der Gesellschaft zu und bleibt doch seltsam unbeteiligt. Auf 3000 Euro wartet auch Denise. Honorar vom Pornodreh. Mehr Biss ringt Marie Jung der Rolle der Supermarktkassiererin ab. Das Leben fasst sie hart an, aber sie lässt sich nicht unterkriegen. Wie ein großes Kind sieht sie aus mit ihren weißen Kniestrümpfen und hochhackigen Sandalen, in denen sie sich lasziv auf dem Schwan räkelt. Eine Überlebenskünstlerin.

Manchen Durchhänger des Abends muss die wunderbare Sandra Flubacher retten. Mit Biss und herrlicher Ironie springt sie zwischen unzähligen Kleinstrollen hin und her, rollt sich mal als Denises’ Tochter auf dem Bühnenboden, markiert den Zuhälter mit ironischer Mackerhaftigkeit, den arroganten Psychiater, die Sozialarbeiterin, die desolate Anton-Mutter, die ganze kalte Außenwelt. Was fehlt, ist der wütende Ton Melles’. Er weicht einer gleichförmigen, seltsam unbeteiligten Beschreibung des Geschehens, der das Obszöne der Verhältnisse und das Symptomatische abhanden kommt.

„3000 Euro“ weitere Vorstellungen 26.3., 7.4., 22.4., 9.5., jew. 20.00, Thalia in der Gaußstraße (Garage), Gaußstraße 190, Karten zu 22,- unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de