Hamburg. Die Sammlung Falckenberg zeigt 900 Arbeiten des US-Künstlers Raymond Pettibon. Schmerz und Wut treiben ihn an.
So viele glaubten an ihn, den amerikanischen Traum: Jeder, der hart arbeite, könne es schaffen, im Wohlstand zu leben, ein Haus zu bauen, damit seine Kinder es einmal besser haben, hieß es. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Amerikaner glauben nicht mehr so recht an diesem Traum, die Realität hat sie eingeholt.
Künstler wie Raymond Pettibon, dessen Werk jetzt in der Harburger Sammlung Falckenberg präsentiert wird, waren schon in den 1970er-Jahren skeptisch. Bis heute formuliert der Amerikaner sein Unbehagen, das Bild vom Wohlstandsbürger mit sauberer Weste und Eigenheim reißt er mit Wut und Zerstörungslust in Fetzen. Er bevorzugt uneindeutige, bedrohliche Situationen, ein grotesk zugespitztes Gangster-Milieu, zwielichtige Gestalten.
Zusammen mit Zeichnungen der Steinköpfe auf den Osterinseln hängen die Selbstporträts von Raymond Pettibon in Harburg. Es gab Zeiten während seiner Jugend, da hat er jahrelang kein Wort geredet. Und mit seinem Bruder, dem Punk-Musiker Greg Ginn (Black Flag, dessen berühmtes Logo er entworfen hat) spricht er seit 1985 nicht mehr. Warum das so ist, deutet er 2014 in einem Gespräch mit Kim Gordon (Sonic Youth) an: Sein Bruder habe sich wahnhaft von allen abgewandt, die ihm wohl gesonnen waren.
Anfangs zeichnete Raymond Pettibon Comics, in den 1980er-Jahren aber verließ er diesen engen Rahmen und begann, erst wenige, dann immer mehr Worte in seine Zeichnungen einzufügen. Schon der große Zeichner Will Eisner („The Spirit“) bezog sich in seinen Arbeiten auf den Film Noir, auch Pettibon tat das zeitweise, allerdings bleiben seine Werke erzählerisch offen, wirken wie Momentaufnahmen. Dabei mischt er Trivial- und Hochkultur, zitiert Henry James, den Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin, James Joyce und viele andere.
20.000 Zeichnungen hat er in den vergangenen 40 Jahren angefertigt, schätzt Ulrich Loock, Kurator der rund 900 Werke umfassenden Ausstellung. Loock hat 1995 schon einmal eine große Pettibon-Ausstellung realisiert. Lediglich 150 Hauptwerke auszuwählen, wie sonst in diesem Kontext üblich, fand er unangemessen: „Diese unglaubliche Fülle, die will ich auch zeigen! Und damit Pettibons extrem große Imaginationskraft. Es wird also auf jeden Fall eine Überforderung!“ Bewusst bewegt sich Loock mit seinem Konzept im Widerspruch zu der gegenwärtigen Tendenz, Kunst mundgerecht zurechtzustutzen. „Ich zeige diese Überproduktivität und überlasse es dem Publikum, einen eigenen Weg zu finden.“
Oft wird Pettibon auf die Punk-Szene der späten 70er-Jahre in Los
Angeles reduziert, in der er sich eine Zeit lang bewegte, für die er heute berühmte Plattencover und Fanzines anfertigte. Das sei viel zu kurz gegriffen, sagt Loock. Vielmehr gehe es dem Künstler bis heute um die dunklen Seiten des amerikanischen Traums, um den Verfall der Hippie-Ideale, die verkrachten Existenzen. Aber auch um die Monstrosität männlicher Machtfantasien und ihre zahlreichen Varianten, verkörpert durch den in seinen Werken omnipräsenten und deshalb lächerlichen Phallus. Was auf der Oberfläche des amerikanischen Traums nicht zu sehen ist, das zerrt Pettibon unbarmherzig hervor.
Die Ausstellung in der Sammlung Falckenberg folgt einerseits einer Chronologie von den 1970er-Jahren bis heute. Andererseits hat Kurator Ulrich Loock versucht, wichtige Motivgruppen zusammenzufassen. Dazu gehören martialische Baseballspieler, per Dampflok betriebene Züge, die bereits der Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau als Ursache allen zivilisatorischen Übels betrachtete, Erektions- und Kastrationsfantasien, grandiose, Freiheit atmende Surfer-Bilder und, im obersten Stockwerk, eine beinharte Abrechnung mit George W. Bush und dem Irak-Krieg. Die roten Streifen der US-Flagge entstehen bei Pettibon durch das Blut zweier gefallener Soldaten, die über den Boden gezogen werden.
Die großen Themen des von Schmerz und Wut erfüllten Raymond Pettibon ziehen sich durch die Jahrzehnte. Allerdings hat er sich mehr und mehr befreit, ist in gewisser Weise authentischer geworden, und in den 2000er-Jahren noch intensiver und böser. Am Kopf der langen Treppe ins oberste Stockwerk fällt eine pervers-pornografische Figuren-Collage förmlich über den Besucher her – vorschlaghammermäßige Kritik am Irak-Krieg und seinen Vollstreckern. Pettibons Botschaft: Krieg ist schmutzig, die, die ihn befehlen, sind schuldig, und Erlösung ist keine in Sicht.
Raymond Pettibon: „Homo americanus“
bis 11.9. Sammlung Falckenberg (S Harburg),
Wilstorfer Str. 71. Öffentliche Führungen: Do und Fr, 18 Uhr, Sa 15 Uhr, So 12, 15 und 17 Uhr.
Anmeldung: www.deichtorhallen.de/buchung,
Eintritt 15,-, erm. 12,- Euro