Hamburg. Fünf Jahre nach dem verheerenden Reaktorunglück von Fukushima wird an der Staatsoper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa uraufgeführt
Eine halbtransparente Wand in diffusem Hellblau und im Vordergrund ein schwarzes Podest, das schräg zur Seite hin ansteigt, mehr an Bühnenbild ist im Großen Haus der Staatsoper nicht zu sehen. Ab und zu ruft jemand etwas quer durch den Saal, dann herrscht wieder tiefes Schweigen. Kein Sänger ist da, kein Musiker. Ein paar Statisten bewegen sich wie in Zeitlupe über die Bühne. Es ist Beleuchtungsprobe, einer der stillsten Momente in dem langen, komplexen Prozess einer Opernproduktion.
An diesem Sonntag wird an der Dammtorstraße Toshio Hosokawas Oper „Stilles Meer“ uraufgeführt. Stille, der facettenreiche Begriff, prägt die ganze Oper. Stille kann auf konzentrierte Beschäftigung hindeuten wie an diesem Nachmittag, sie kann Sprachlosigkeit sein, eine beredte Pause oder die unheimliche Reglosigkeit der Natur nach einer Katastrophe wie der von Fukushima. Fünf Jahre nachdem das Seebeben vor der japanischen Küste in ein Atomunglück von ungeahnten Dimensionen mündete und den hemdsärmeligen Glauben an die Beherrschbarkeit der Atomkraft weltweit erschütterte, setzt Hosokawa den Opfern im Auftrag der Staatsoper ein klingendes Denkmal. Generalmusikdirektor Kent Nagano dirigiert die Uraufführung.
Der Regisseur Oriza Hirata verschwindet während der Probe fast in den Plüschsitzen des Parketts. Der zierliche 53-Jährige im grauen Anzug, mit angegrautem Haar und einem feinen, unverrückbaren Lächeln im Gesicht hat so gar nichts von einem Dompteur oder Herrscher. Nichts an seiner Erscheinung lässt ahnen, dass er in Japan eine Institution ist, dass er das japanische Theater geradezu revolutioniert hat. Um das zu ermessen, muss man seinen Sätzen schon sehr genau zuhören.
Hirata hat auch das Libretto zu „Stilles Meer“ geschrieben. In seinem Text schildert er nicht einfach das Leid der Bevölkerung. „Dafür braucht es keine Kunst“, sagt er der Dolmetscherin, „das ist Aufgabe der Nachrichten.“
Die Oper enthält sich direkter politischer Aussagen, sie zeigt die Menschen. Die Dorfbewohner, die im Schutzanzug ihre Toten betrauern müssen. Das kleine Mädchen, das nicht mehr draußen spielen darf, seit der Himmel voll von gefährlichem Staub ist. Begleitend zu den Vorstellungen zeigt die Staatsoper die Ausstellung „Low Tide“ mit Fotos von Denis Rouvre, der nach dem Unglück Menschen aus der Region porträtiert hat.
Das Meer bringt die Ertrunkenen nur alle paar Tage an den Strand
„Stilles Meer“ erzählt im Kern eine west-östliche Geschichte. Claudia, eine deutsche ehemalige Balletttänzerin (gesungen von der Koloratursopranistin Susanne Elmark), hat bei einem – im Text selbst nicht näher bezeichneten – Tsunami ihren japanischen Mann und ihren Sohn aus einer früheren Beziehung verloren. Sie kann nicht in die Gegenwart zurückkehren und sich mit dem Tod ihres Kindes abfinden, sie will es offenbar auch nicht. Immer wieder geht sie zum Strand und sieht aufs Wasser hinaus, als würden Takashi und Max bald von ihrem Angelausflug heimkommen. Das Meer bringe die Ertrunkenen nur alle paar Tage, erklärt sie Stephan (verkörpert vom Countertenor Bejun Mehta), dem Vater ihres Kindes, der nach dem Unglück aus Deutschland gekommen ist. Stephan und die japanischen Hinterbliebenen hoffen, dass Claudia aus ihrer Erstarrung herausfindet, wenn sie an einem Tanzritual des Nô teilnimmt.
Hirata hat für sein Libretto zwei Vorlagen verschmolzen. Der Komponist Hosokawa hatte ein Stück des Nô-Theaters aus dem 15. Jahrhundert ausgewählt, in dem eine Frau ihren toten Sohn sucht. Sie kann ihr Kind erst innerlich loslassen, wenn sie ein bestimmtes Ritual tanzt. Hirata nahm die Novelle „Das Ballettmädchen“ von Mori Ôgai dazu. Ein Japaner geht nach Deutschland und verliebt sich in eine deutsche Tänzerin. Sie wird schwanger. Noch vor der Geburt des Kindes geht er aus Karrieregründen zurück nach Japan, die Verlassene wird wahnsinnig. „Jeder Japaner meiner Generation kennt die Novelle“, sagt Hirata, „dadurch sind die Protagonisten mehr als Romanfiguren. Sie gehören zum kollektiven Bewusstsein.“
Für Hosokawa hat sich Hirata auf Elemente des stark stilisierten Nô-Theaters eingelassen. Sein eigenes Theater geht in eine gänzlich andere Richtung. „Alltagssprachliches Theater“ nennt es sich. Sein Kernanliegen: den modernen japanischen Menschen und seine Lebenswelt realistisch abzubilden, ohne etwas zu beschönigen. „Ich will Durchschnittsjapaner darstellen“, sagt er. „Unser Alltagsleben ist stark westlich geprägt.“ Deshalb haben japoneske Klischees, Brauchtum und Folklore bei Hirata keinen Platz.
Auch in „Stilles Meer“ werden keine Masken oder reich verzierte Gewänder und kein Tanz zu sehen sein. Die stilisierten, abgezirkelten Bewegungen des Nô finden sich aber im Duktus des Stücks. Hosokawa verschmilzt in seinem Werk japanische und westliche Musiktraditionen. Wie unterschiedlich sie sind, hat der Komponist einmal an einem Beispiel verdeutlicht: In der europäischen Musik sei ein Ton nur ein Teil eines Ganzen, während in der japanischen Musik eine Note eine Landschaft darstelle, es folge immer auf einen Klang eine Pause.
„Diese Stille will ich hörbar machen“, sagt Hirata. „In der europäischen Kultur gilt die Null eher als etwas Negatives. In Japan ist das Nichts das Höchste.“ Die Struktur der Musik hat er in sein Bewegungskonzept übernommen. „Auch auf der Bühne herrscht Stille“, erklärt er. „Gerade wenn die Musik schweigt und auf der Bühne nichts geschieht, geschieht in den Herzen der Zuschauer sehr viel.“
„Stilles Meer“ So 24.1., 18.00 (Premiere). Weitere Vorstellungen. 27.1., 30.1., 9.2., 13.2., jeweils 19.30„Low Tide“ 24.1. bis 13.2., Staatsoper (Parkettfoyer)