Hamburg. Das Thalia-Projekt „Ankommen – Unbegleitet in Hamburg“ ermöglicht dem Zuschauer unmittelbare Begegnungen mit jungen Flüchtlingen.

Erste Kabine. Auf einem Tischchen liegen Gegenstände. Ein Junge fordert den Zuschauer auf, sich nach und nach etwas auszusuchen. Zum Beispiel: eine schmale, handtellergroße Freiheitsstatue. „Ich kannte Amerika aus Filmen. Als ich in Hamburg ankam, habe ich gefragt: Ist das hier New York?“ Dann: ein unförmiges Plastiktütenpäckchen. „Zwei Männer haben mir die Plastiktüte gegeben, ich wusste, es war nichts Gutes. Ich rief meinen Onkel an, der kam im Polizeiauto, ich musste ins Gefängnis. Es war Sprengstoff.“ Eine Rolle Kekse. „Das war alles, was wir auf dem Mittelmeer hatten. Sie haben gesagt, es dauert vier Stunden bis Europa. Wir waren sieben Tage unterwegs.“ Ein Foto des Jungen, er posiert mit Gewehr in der Hand. „Eine AK-47!“ Er weiß noch, wie das Gewehr heißt. Ein Gong ertönt, der Zuschauer muss weiter, nächste Kabine.

„Ich war 13“, ist einer der Sätze, die dabei hängenbleiben.

Das Raumsystem aus dunklen Vorhängen, das Michael Köpke auf eine Probebühne des Thalia Theaters in der Gaußstraße gebaut hat, erinnert ein bisschen an die Untersuchungskammern in US-Krankenhausserien. In jeder Kammer wartet eine Begegnung. „Ankommen – Unbegleitet in Hamburg“ heißt das Projekt des Regisseurs Gernot Grünwald, der sich bereits bei den Lessingtagen eindrucksvoll mit Kindersoldaten beschäftigt hatte. Diesmal hat Grünewald gemeinsam mit der Thalia-Dramaturgin Anne Rietschel und der Theaterpädagogin Sophie Arlt junge unbegleitete Flüchtlinge gebeten, ihre Geschichten zu erzählen und daraus eine Theatervorstellung gebaut. Wobei der Begriff „Vorstellung“ im herkömmlichen Sinne nicht passt. Es ist vielmehr eine dramaturgisch und inszenatorisch gelenkte Konfrontation mit der Wirklichkeit, oder jedenfalls: mit einer Version der Wirklichkeit, einem Ausschnitt, einem Einblick.

Es sei „ein langer Probenprozess“ gewesen, einer, „der uns als Theater sehr herausgefordert hat“, sagt Anne Rietschel. Manche der Jungen seien gewissermaßen „auf dem Weg verloren gegangen“, andere im Laufe der Wochen neu hinzugekommen. Wenn sie von ihrer Arbeit berichtet, merkt man der Dramaturgin das große persönliche Engagement an, ahnt aber auch die Schwierigkeiten des ambitionierten Projekts, das sich bewusst auf dem schmalen Grad zwischen künstlerischem Gestaltungswillen und Sozialarbeit bewegt. Keiner der ursprünglich 14, in den Endproben noch acht Teilnehmern hatte Theatererfahrung, aber man habe „einen Weg gefunden, miteinander klarzukommen“. Unterstützt wurde das Projekt vom Programm „Kultur macht stark“, mit dem das Bundesministerium für Bildung und Forschung Maßnahmen der kulturellen Bildung für benachteiligte Kinder und Jugendliche fördert.

Er sei „ausgebildet, um zu töten“, berichtet einer der Jungen, fünfmal am Tag Gebete, Schießübungen. Andere erzählen von ihren Familien, die Schwestern in Pakistan, der Bruder „in die andere Richtung gelaufen, als die Al-Shabaab-Miliz kam. Seitdem nichts von ihm gehört“. Einer stellt sich als „Kameramann ohne Kamera“ vor, ein Jüngling, der in Afghanistan Hochzeiten gefilmt hat. Ein anderer fragt, fast herausfordernd, der schockierendste Moment des interaktiven Reigens: „Willst du sehen, was die Taliban gemacht haben?“ Und er hebt sein Shirt, der Rücken ist mit Narben übersät.

Aus Nachrichten werden Menschen in diesen Episoden. Genau darin liegt das wohl größte Verdienst: Nähe in einem geschützten Umfeld zu ermöglichen. Widersprüchliche Gefühle (Darf man einen jungen Flüchtling unsympathisch finden?), Irritation, auch Zweifel muss der Zuschauer aushalten. Am Schluss, kurz bevor es süßen Tee und ein Stück afghanischen Kuchen gibt, laufen über Lautsprecher Ausschnitte aus aktuellen Nachrichtensendungen über Anschläge auf Flüchtlingsheime. Viele Ausschnitte. Viele Anschläge. Und man schämt sich.

„Ankommen – Unbegleitet...“ Thalia Gaußstraße, alle Vorstellungen bis 1.11. ausverkauft. Neue Vorstellungen sind für die Lessingtage 2016 angedacht