Hamburg. Die Weißrussin ist eine unbeugsame Kritikerin geistiger Unfreiheit. Dies führte häufig zu Konflikten mit den Machthabern.

Da Unberechenbarkeit quasi den Markenkern der für die Auswahl des Literaturnobelpreises zuständigen Schwedischen Akademie ausmacht, hatten die öffentlich als Favoriten gehandelten Kandidaten in der Vergangenheit oft genug schlechte Karten. Doch diesmal war das anders: Als am Donnerstag kurz nach 13 Uhr in Stockholm die diesjährige Entscheidung bekannt gegeben wurde, fiel nicht der Name eines in der literarischen Öffentlichkeit kaum präsenten nigerianischen oder kenianischen Dichters. Mit Swetlana Alexijewitsch wird vielmehr jene Autorin geehrt, die in letzter Zeit als besonders aussichtsreich gegolten hatte.

Schon in den vergangenen Jahren gehörte die 67-jährige Weißrussin zu den häufig genannten Kandidaten. In Deutschland ist sie spätestens seit ihr vor zwei Jahren der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Das Nobelpreiskomitee würdigte ihr „vielstimmiges Werk, das dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“.

Konflikt mit der Zensur begann mit ihrem Buch über Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg

Gewiss nicht zufällig bezog sich Alexijewitsch gestern in ihrer ersten Reaktion auf jenen russischen Dichter, der 1958 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, ihn aber auf Druck der sowjetischen Parteiführung nicht annehmen durfte: „Ich betrachte es als eine große Ehre, nun in einer Reihe mit Schriftstellern wie Boris Pasternak zu stehen“, sagte sie einem schwedischen Fernsehsender.

Wie im Fall Pasternak, der für seinen 1957 nur im Westen erschienenen Roman „Doktor Schiwago“ ausgezeichnet wurde, ist auch das Werk von Swetlana Alexijewitsch von der Erfahrung der Diktatur, von geistiger Unfreiheit und politischer Bevormundung geprägt. Geboren wurde sie 1948 als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen in der westukrainischen Stadt Stanislaw, wuchs aber in einem Dorf in Weißrussland auf.

In Minsk studierte sie Journalistik und begann 1972 für Lokalzeitungen zu arbeiten. Vier Jahre später wechselte sie zu einem Literaturmagazin, was ihr die Möglichkeit bot, nicht nur journalistische, sondern auch literarische Texte zu schreiben. Ihrem Credo, mit dem Schreiben „eine größtmögliche Annäherung an das wahre Leben“ anzustreben, konnte sie in einem literarischen Umfeld weit eher gerecht werden, als im gleichgeschalteten sowjetischen Zeitungsjournalismus.

Zum Konflikt mit der Zensur kam es, als Swetlana Alexijewitsch den heroischen Geschichtsmythen des „Großen Vaterländischen Krieges“ die erschütternden Erfahrungen jener entgegensetzte, die diese schreckliche Zeit durchlitten haben. „Der Krieg hat ein weibliches Gesicht“, hießt das 1983 vollendete Buch, für das sie 500 Tonbandprotokolle mit Frauen führte, die als Soldatinnen am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten. Die Zensurbehörde reagierte prompt, verbot die Publikation und warf der Autorin eine antikommunistische Haltung vor. Sie würde die Ehre der sowjetischen Helden beschmutzen, hieß es, was in der späten Breschnew-Ära ein Totschlagargument war.

Leben unter Diktator Lukaschenko: Ihr Telefon wird noch immer abgehört

Aber die Zeiten änderten sich. Als sich Michail Gorbatschow, seit 1985 Parteichef, daran machte, die verkrustete Gesellschaft zu öffnen, konnte das Buch auch in der Sowjetunion erscheinen. Noch 1985 folgte mit „Die letzten Zeugen“ Swetlana Alexijewitschs zweites Buch, in dem sie sich aus der Per­spektive ihrer Familie mit den bis dahin totgeschwiegenen oder zumindest verharmlosten stalinistischen Verbrechen beschäftigte. Und das Trauma des Afghanistankrieges, der für die UdSSR in einem Desaster endete, verarbeitete Swetlana Alexijewitsch in dem Buch „Zinkjungen“, ebenso wie die Atom­katastrophe von Tschernobyl, der sie einen Dokumentarband mit den erschütternden Berichten Betroffener widmete.

Dass sich Alexijewitsch noch lange nach dem Untergang der Sowjetunion für ihre Texte vor Gericht rechtfertigen musste und dass ihr Telefon bis heute abgehört wird, ist der Tatsache geschuldet, dass sie in Weißrussland lebt, der von Alexander Lukaschenko beherrschten letzten Diktatur Europas. Swetlana Alexijewitsch ist unbeugsam, aber illusionslos. Freiheit bezeichnet sie als „Abwesenheit von Angst“. Freiheit bedeute aber auch, nicht geprügelt zu werden, sie fügt jedoch hinzu: „Aber eine Generation, die nicht geprügelt wurde, wird es bei uns nicht geben.“

Kein Wunder, dass die Verleihung des Nobelpreises von regierungsnahen Medien in Minsk und Moskau kritisiert wird, mit Argumenten, die an alte Zeiten erinnern. So meinte die „Komsomolskaja Prawda“, Alexijewitsch habe den Preis nur „für ihren Hass auf Russland“ bekommen.