Hamburg. Vor 8000 Fans beginnt Marius Müller-Westernhagen in der Hansestadt seine Deutschland-Tournee – und hinterlässt zwiespältige Eindrücke.

Es gibt Konzert­momente, die bleiben für immer im ­Gedächtnis haften. Nicht weil sie schön waren oder schlimm, sondern vor allem grotesk. Unvergessen, wie das Hamburger Publikum von Peter Maffay vor zehn Jahren das Atomkrieg-Gleichnis „Eiszeit“ im fröhlichsten Schunkelrhythmus erbarmungslos niederklatschte: „Der letzte Mensch bittet um den Tod“ – klatsch, klatsch, klatsch! Eine Diskrepanz zwischen der Kunst und ihren Konsumenten herrschte auch am Donnerstag beim Tourauftakt von Marius Müller-Westernhagen in der Barclaycard Arena.

Die ersten zehn Minuten sind gespielt, und die 9000 Fans, die den Wahlberliner mit der pickenden, klopfenden und scharrenden Mauerspecht-Stimme mit großem Jubel empfangen, sind gerade auf dem besten Weg, die Eisfläche unter den Dämmplatten im Innenraum abzutauen. Der Titelsong des neuen Albums „Alphatier“ und die alten Hits „Fertig“ und „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ legen ein gutes Tempo vor, und der Sound der wie immer hervorragend aufspielenden Band ist trotz mäßiger Hallenakustik schön rau und bluesig. Der Marius wird das Kind schon schaukeln wie den Ring, der an seinem linken Ohr baumelt.

Aber dann kommt schon sehr früh beim vierten Lied der große Knackpunkt des 110 Minuten langen Abends. „Demokratie für alle Menschen dieser Welt. Brüder, Schwestern, verbrennt das ewige Gestern. Freiheit, Freiheit für alle Rassen, für alle Kulturen. Für die Medien, für die Kunst. Für die Junkies, für die Huren. Für die Lesben, für die Schwulen“, singt Westernhagen im neuen Lied „Liebe (um der Freiheit willen)“. Dazu wechseln sich auf der Multimediawand im Hintergrund Tierkadaver, Rebellen, die grinsend mit abgeschnittenen Köpfen posieren, Kindersoldaten, tote Säuglinge, Schädel und Knochenhaufen ab. Das kommt völlig überraschend und zieht auch die nicht zart besaiteten, am historischen und aktuellen Tagesgeschehen interessierten Gemüter richtig weit runter.

Es ist eigentlich große Kunst, die dort zu sehen ist, Bildercollagen des berühmten amerikanischen Fotografen Peter Beard, der die Zerstörung der Natur durch den Menschen zu seinem zentralen Thema macht. Beeindruckend bedrückend. Westernhagen wird es später am Abend ein „Wagnis“ nennen, diese sehr drastischen Fotos leinwandfüllend und ohne Ansprache zu zeigen, aber der Preis dieses Wagnisses ist hoch. Denn die Bilder bleiben den ganzen Abend im Kopf, bei „Taximann“, „Willenlos“, „Clown“, „Mit 18“. Man kann sie nicht so einfach schnell wieder abschütteln, und die Atmosphäre bleibt lange Zeit, für ein Westernhagen-Konzert, spürbar zurückhaltend. Der Applaus klingt verhaltener, und auch Westernhagen spricht weniger als in den Vorjahren.

Nun will Westernhagen keine Hit-Jukebox sein, das hat er seinen Fans bereits 2008 zu seinem 60. Geburtstag geschenkt. Die Anhänger durften damals im Internet die Setliste zusammenstellen, die Hamburger Halle und 11.000 Anhänger standen entsprechend kopf. Aber dieses Jahr zerbrechen sie sich den Kopf und diskutieren kontrovers im Umlauf, am Bierstand, im Shuttlebus und später auf Facebook. Ja, der Mensch ist leider primitiv, die Welt da draußen geht kaputt, und niemand fordert oder erwartet ernsthaft von einem Westernhagen, zwei Stunden ausschließlich für eine heitere „Sexy“-Partykellersause zu sorgen. Bloß nicht! Aber wer eine Botschaft hat, sollte seine Adressaten an die Hand nehmen, statt ihnen mit der Brechstange ein Bewusstsein einzuprügeln. Sonst verpufft sie an der Abwehrhaltung des schockierten, überforderten und über die Maßen provozierten zahlenden Gastes.

„Wir haben die Videoleinwände so konzipiert, dass sie Räume erzeugen, ohne von der ­Musik abzulenken“, erzählte Westernhagen im Mai dieses Jahres beim Interview in Berlin, „wir wollen für Tiefe sorgen und auch die Zeit, in der wir leben, reflektieren. Mal sehen, ob uns das gelingt. Ein bisschen Risiko muss ja sein.“ Eine Spur weniger Risiko hätte gut getan und nicht so sehr von der Musik abgelenkt.

„Die Welt brennt lichterloh“, warnt Marius und fordert zum Mitsingen auf, während hinter ihm auf der Leinwand Raketenwerfer und Bomber Tod und Verderben bringen. Vier Lieder später ist er bei „Sexy“ gefangen „zwischen deinen langen Beinen“. Das ist schon eine schräge Dramaturgie, „es ist mir scheißegal, mach ich mich lächerlich“.

Zumindest sind Fans und Star am Ende wieder aufgetaut für das Finale mit „Halt mich noch einmal“, „Es geht mir gut“, „Wieder hier“ und natürlich „Johnny W.“. Eigentlich steht als letztes noch „Freiheit“ auf der Setliste, aber mit dieser Hymne hadert Westernhagen schon seit vielen Jahren, sie wird wohl nur an besonders gelungenen Abenden auf dieser Tour gespielt. In Hamburg wurde „Freiheit“ wieder abbestellt.