Hamburg. Herbert Fritsch inszeniert am Schauspielhaus Carl Sternheims „Die Kassette“ mit purer Übertreibungslust

Akkurat aufgeschichtet türmen sich die Holzscheite am Bühnenrand. Man ahnt, sie werden diesen Theaterabend in dieser Haltung kaum überleben und tatsächlich stolpern die Akteure wie Blinde hinein, von vorne wie von hinten. Am Ende darf der Diener des Hauses mit einer Axt zwischen Holzscheiten stehend den eigenen Schädel bearbeiten. Moral mit dem Holzhammer? Keineswegs. Schönstes, hyperventilierendes Tollhaus-Theater sehr wohl. Wir sind ja bei Herbert Fritsch. Nach seinem Erfolg mit Molières „Die Schule der Frauen“ entlarvt der Regisseur und langjährige Berliner Volksbühnenschauspieler nun am Schauspielhaus Verkommenheit und Geldgier des Bürgertums anhand Carl Sternheims „Die Kassette“ in einer Übersetzung von Sabrina Zwach. Ein großer, manchmal mit dem ohnehin ausladenden Expressionismus der Vorlage kämpfender Spaß.

In Sternheims bürgerlichem Lustspiel steckt alles drin. Die Gier und das Geld, die Liebe eines Oberlehrers zu einer deutlich jüngeren Frau und der Neid von Tochter und hexenhafter Tante. Die Urzelle Familie ist mal wieder die Keimzelle des Wahnsinns. In der Dreiecksgeschichte des Mannes zwischen Geld und Geschlechtsgier wird bald nicht das Weib, sondern eine verführerische Geldkassette zum Objekt der Begierde. Einfach brutal. Und so wird das 1911 uraufgeführte, derzeit vielerorts wieder ausgegrabene Stück an diesem Abend auch präsentiert. Mit Schauspielern wie auf Speed. Elek­trisch aufgeladen bis in die Spitzen des Kunsthaars.

Fritsch hat sich selbst wieder ein tolles Bühnenbild gezaubert mit endloser Blumentapete, gigantischem Kamin und Holzecke. Die Kostüme Victoria Behrs zitieren lebhaft aus dem Schatz der Jahrhundertwende. Fritsch-Pianist Ingo Günther dirigiert vom Flügel aus den Bühnen-Nonsens virtuos. Gemäß der Devise „Lauter, doller, schneller“ entwirft er einen eigenen Schauplatz, kriecht rhythmisch polternd über den Boden, zupft die Seiten mit gespreiztem Bein. Die Partitur treibt das Geschehen an.

Götz Schubert ist großartig als grotesk kostümierter Heinrich Krull mit Blondperücke und rotem Katzenschnurrbart und gibt dem notorisch verschuldeten Oberlehrer etwas süffisant Verschlagenes, Durctriebenes. Seine Tochter Lydia ist bei Gala Othero Winter eine entzückende kleine Koboldin, etwas dümmlich, aber äußerst biegsam. Ihre Tante Elsbeth spielt Anja Lais als Albtraum in Tüll und Spinnennetzhaaren. Wie Phoenix aus der Asche fährt sie aus dem Boden auf das Kaminsims. Ein Sahnebaiser, an dem sich die moralisch verrottete Familie aber leicht den Magen verdirbt. Wie Lydia ist sie über Krulls neue Eroberung Fanny gar nicht amüsiert. Karoline Bär verkörpert die zweite Frau des Lehrers als Kanarienvogel aus der Charleston-Ära. Schrill, lasziv und ohne mädchenhafte Niedlichkeit.

Alle wollen sie der betuchten Tante ans mit Papieren der Forstwirtschaft erwirtschaftete Geld. Krull will die lästige Tante am liebsten „frikassieren“. Als Katalysator der verkorksten Geld- und Liebesangelegenheiten, der Intrigen und Geheimbünde erweist sich ein halbseidener Fotograf mit Namen ­Alfons Seidenschnur, der von Elsbeth unvorteilhafte Bilder angefertigt hat, die sie nun nicht bezahlen will.

Bei dem erprobten Fritsch-Spieler Bastian Reiber wird der Künstler mit Vorliebe für obskures Licht so recht ein eitler Geck, „bis zu völliger Bewusstlosigkeit empfindlich“. Die Szenen zwischen Seidenschnur und Lydia zählen zu den neurotischsten und schönsten des Abends, wie er sie gestenreich mit wippender Baskenmütze umwirbt und sie um die eigene Achse schleudert oder sie sich mit ganzer Körperkraft ihrer zarten Person am Kaminsims oder an einem Seil emporzieht.

Herbert Fritsch zeigt das Theater, das er selbst am liebsten gespielt hat. So stolpern, grimassieren und verdrehen sich die Darsteller über die Bühne. Lider klimpern in dick getünchten Gesichtern, Augen rollen wie im Stummfilm und Körper verknäulen sich expressionistisch kunstvoll. Nebenrollen sind da kein Feld für Statisten. Hier ist es ein dezent grimassierender Jonas Hien als Hausdiener Emil, der im rechten Moment Hinweise streut.

Herbert Fritsch mixt Commedia dell’Arte mit einer Prise Marx Brothers

Fritsch jagt seine Darsteller zu Höchstleistungen in Akrobatik, Pantomime, sogar Turnen. Sein Theater ist ein lustvoll albernes, das sich um Debatten von glaubhafter Repräsentation nicht schert, wohl aber um Bedeutung. Einem verkrampften Denken setzt er das klare Bekenntnis zum Unechten entgegen. In einem betörenden Mix aus Commedia dell’Arte mit einer Prise Marx Brothers. Als Schauspieler war Fritsch abonniert auf Krawall und Irrsinn, Kritiker bedachten ihn mit dem Attribut der „manngewordenen Strapaze“. Strapaziös ist sein Theater durchaus auch hier. Ständig das hohe Tempo, ständig die hysterischen Blicke und überdrehten Gesten. Die Mittel des überbordenden Fritsch-Theaters befeuern den ohnehin sprachmächtigen Sternheim-Text, erdrücken ihn zeitweise aber auch.

Die lustvolle Albernheit wird zudem getrübt von akustischen Problemen in den hinteren Reihen. Denn so tapfer die Schauspieler die enormen Textgebirge hin und her wuchteten, im Tal machte sich manch verschleifte Silbe davon. Aber daran lässt sich noch arbeiten. Insgesamt ist es eher ein Abend des Zuviel als des Zuwenig. Und daran herrscht derzeit eher Mangel an den Theatern. Als Spießer-Satire ist der Stoff absolut zeitlos. Im Lichte des ­lodernden Kaminfeuers ist er saftig. Und doch im Kern wahrhaftig.

„Die Kassette“ nächste Vorstellungen 9.10., 19.00, 14. 10., 17.10., jeweils 20.00; 8.11., 15.30, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten zu 10 bis 37 Euro unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de