Hamburg. Heute wird weltweit zeitgleich „Verschwörung“, der vierte Band der Krimitrilogie von Stieg Larsson veröffentlicht.

Hat die Welt seit 2005 tatsächlich nägelkauend auf Neues von Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist gewartet? Um sich diese Frage zu stellen, gibt es rund 82 Millionen Gründe, denn so viele Exemplare der „Millennium“-Trilogie sind bislang verkauft worden. Die entscheidende Betonung liegt dabei auf „bislang“. Keine Krimiserie in diesem Jahrhundert war erfolgreicher und mit geschätzten 400 Millionen Euro lukrativer als die Bücher des Journalisten Stieg Larsson, der 2004, gerade mal 50, an einem Herzinfarkt starb und seinen Welterfolg nicht mehr erleben durfte.

An dieser Stelle nun kommt ein gänzlich anderer schwedischer Autor namens David Lagercrantz ins Spiel, ab hier wird es – zumindest moralisch – so etwas wie fast schon kriminell. Lagercrantz stammt im Gegensatz zu Larsson aus bestem Hause, als Sohn eines angesehenen Journalisten und einer adligen Philosophin. Bevor er sich mit einer prallen Biografie über den Fußballer Zlatan Ibrahimovic ins Rampenlicht seines Heimatlands schrieb, war er unter anderem PR-Texter bei Volvo und Polizeireporter bei einer Boulevardzeitung. Die letzten zwei Jahre jedoch hat sich Lagercrantz hinter seiner Tastatur verschanzt, um für Larssons Verlag und Larssons Erben einen ganz speziellen Ghostwriterauftrag abzuarbeiten, der ihn entweder weltberühmt machen wird. Oder nur stinkreich. „Hierfür wurde ich geboren, niemand könnte das besser“, schrieb Lagercrantz über seine Eignung.

Der Krimi-Autor
Stieg Larsson starb
2004
Der Krimi-Autor Stieg Larsson starb 2004 © dpa

„Verschwörung“ – der Originaltitel lautet sinngemäß „Was uns nicht umbringt“ – erscheint heute in einer generalstabsmäßig geplanten Aktion weltweit zeitgleich bei knapp 30 Verlagen, in fast genauso vielen Sprachen, weltweit angeblich mit 2,7 Millionen Stück. Allein in Deutschland liegt die Startauflage bei 250.000 Exemplaren. Ein Spitzenplatz in allen Bestsellerlisten ist damit bereits vorab gebucht.

Wie es sich für das Hochköcheln eines globalen Literaturhypes gehört, wurde nichts ausgelassen, um auf Teil vier der Trilogie aufmerksam zu machen. Lagercrantz musste auf einem Computer ohne Internetzugang schreiben, um nicht das Opfer neugieriger Hacker zu werden, die sich an Salanders Na-das-wollen-wir-doch-mal-sehen-Gesinnung ein Beispiel nehmen möchten. Im Netz recherchiert wurde mit einem anderen Gerät. Das Geheimprojekt wurde „Eva A“ getauft, was eine Anspielung auf „Eva“ sein soll, den Tarnnamen der Stockholmer Nobelpreisjuroren für den 2014 ausgezeichneten Autor Patrick Modiano.

Der fertige Text auf Seiten mit Wasserzeichen, sicherer ist sicherer, wurde danach ganz altmodisch per Kurier zu den Verlagen transportiert. Die Übersetzer arbeiteten wahrscheinlich unter guantanamoesken Bedingungen. Wer trotzdem versucht hätte, auch nur einen Halbsatz zu petzen, dessen Leben wäre verwirkt gewesen, weil er erst verklagt worden wäre und dann mit einem sehr stumpfen Kartoffelmesser gevierteilt.

Knapp zwei Dutzend Interviews mit Lagercrantz liegen derzeit in Redaktionen rund um den Globus mit Sperrvermerk auf Halde. Er selbst wird in den nächsten zwei Monaten von seinen PR-Terminen durch diverse Zeitzonen gehetzt werden. Die letzten Wochen hatte ihn sein Verlag angeblich auf einer finnischen Waldschrat-Insel weggeschlossen, damit er für die Zeit bis Oktober vorschlafen kann und weil er, wie er zugab, zum Ausplaudern von Handlungshinweisen neigt. Rausgelassen wurde nur: Die Geschichte soll im Silicon Valley spielen und sich um künstliche Intelligenz drehen, und die bad guys kommen von der NSA.

Hier und da durften einige nichtssagende Absätze aus dem neunten Kapitel abgedruckt werden. Aber anders als üblich erhielten Journalisten nicht alles vorab zu lesen. Heute und ganz bestimmt erst heute soll das gedruckte Buch in der Post sein, oder gleich morgens als E-Book-Datei in einer Mail. Das verhindert Verrisse im Netz und steigert die Spannung, die wichtigste Währung der Branche. Falls es sie überhaupt noch gibt, acht Jahre nach dem Erscheinen des letzten Trilogie-Drittels. Denn es ist keineswegs sicher, dass Lagercrantz’ Buch die millionenschweren Erwartungen erfüllen wird, da heutzutage kaum etwas älter wirkt als der heiße Scheiß von vorgestern.

David Lagercrantz schrieb die
Fortsetzung von Larssons Trilogie
David Lagercrantz schrieb die Fortsetzung von Larssons Trilogie © picture alliance

Schon die schwedische Literaturszene, für die Stieg Larssons Lebenswerk eine Art Nationalheiligtum darstellt, ist gespalten. Von „Grabplünderung“ war wütend die Rede. Eva Gabrielsson, die langjährige Lebensgefährtin Larssons, schäumt seit langem über die Geldgier, die für sie hinter diesem posthumen Deal steckt. Da die schwedische Rechtsprechung so ungerecht ist, wie sie ist, gingen die Rechte an Larssons Lebenswerk mangels Testamentsverfügung an dessen Vater und dessen Bruder. Die haben bereits bestens damit verdient und wollen die jetzt kommenden Erlöse Larssons Lebenswerk, der antirassistischen Zeitschrift „Expo“, zukommen lassen. Dass Gabrielsson auf einem Laptop einen Manuskript-Rohling für „Millennium IV“ gefunden haben will, der den Arbeitstitel „Die Rache der Götter“ trägt, macht die Sache noch komplizierter. Sie will diesen letzten Schatz ihres Schatzes auf keinen Fall veröffentlichen. So bleibt statt der Alternative der Imitation der Mythos des Originals unveröffentlicht. Und auch der wird auf Lagercrantz’ Konto einzahlen.

Der Erfolgsdruck solcher Serientäter ist beileibe nicht neu. Einer der ersten, der ihm nicht entkam, war Arthur Conan Doyle. Er schrieb Sherlock Holmes anno 1893 erst ins Jenseits – und ließ ihn 1903, weil Kundschaft und Markt es so wollten, wieder auferstehen. Eine andere, noch gängigere Variation des Lazarus-Prinzips erlebten und erleben Markenartikel wie Hercule Poirot, James Bond und der besagte Meisterdetektiv mit der Pfeife. Für Fortschreibungen zu diesen beiden wurde der Brite Anthony Horowitz engagiert. Donald McCaigs „Rhett“, die Fortsetzung zu „Vom Winde verweht“, war noch nicht mal für Südstaatenfans allzu interessant. Kürzlich erschien „Grey“, E.L. James’ Nachschlag zu „Fifty Shades of Grey“ aus der Sicht des Herrn mit den handfesten erotischen Vorlieben. Harper Lees „Gehe hin, stelle einen Wächter“, die jahrzehntelang verschollen geglaubte Erstfassung ihres Klassikers „Wer die Nachtigall stört“, spielt viel später als die Endfassung. Doch selbst dieses Plot-Durcheinander hat das Buch in den letzten Wochen nicht daran gehindert, zum Bestseller zu werden. Von Zeit zu Zeit liest man das Alte eben gern.